ALBERT DRACH im Gespräch mit Ernst Molden
,,ICH LIEBE DIE VÖGEL AM MEISTEN”
Der österreichische Schriftsteller Albert Drach feiert am 17. Dezember seinen 90. Geburtstag. Aus diesem Anlaß veranstalten die Alte Schmiede und das ,,Literaturhaus“ Symposien, Lesungen und Diskussionen. Die BÜHNE sprach mit dem Dichter in Mödling.
Kaum etwas ist feindlicher als österreichische Kleinstädte, wenn der Winter bald kommt. Mödling: Wir hatten gedacht, drei sei die Zeit. Wir wußten nicht, daß Drach das nie tut. Drach empfängt erst um halb vier. So beugt sich also um Punkt drei Gerty Drach, geborene Rauch, aus dem Fenster im ersten Stock des Hauses Hauptstraße 44 und ruft: Sie sind zu früh. Mein Mann tut das nie. Mein Mann empfängt erst um halb vier.
Wir gehen, um wiederzukommen. Mödling: Müßte es, denken wir, nicht überall bevölkert sein von den Blumentrosts und Pieperls, von den Thuguts, Nepaleks und Siebentots, von all diesen österreichischen Widersachern von Wahrheit und Rechtschaffenheit, die die Unbestechlichkeit des Albert Drachschen Hirns seit sechseinhalb Jahrzehnten gebiert?
Heimat, hat Albert Drach einmal gesagt, das sei für ihn „die deutsche Sprache und der Drachhof“. Zwei Hauptstraßenlängen später stehen wir wieder vor dem wuchtigen, blaßgelben Gebäude und wollen noch einmal läuten. Bevor wir es tun können, öffnet Albert Drach das Tor. Ein alter Herr mit einem riesigen Krawattenknopf, verliert er kein Wort über unser Zufrühkommen, er weist uns eine steile Stiege hinauf: Kommen Sie hinauf, sagt er, legen Sie ab. Gehen Sie hinein. Essen Sie von der Bäckerei meiner Frau. Wir essen, und Albert Drach sitzt dabei.
Meinetwegen nimmt er eine Schale Tee.
Die deutsche Sprache und der Drachhof: Hier wurde der Schriftsteller als Sohn eines jüdischen Mathematikprofessors geboren. Hier wuchs er auf, hier schrieb er seine ersten Arbeiten. Theaterstücke. Hier besuchte ihn und seinen Vater der Hausfreund Anton Wildgans. „Mein Freund Anton Wildgans”, hat Drach gesagt, ,,war kein großer Schriftsteller“. Aber Drach nimmt ein Bild vom Drachhof von der Wand, ein Aquarell, das Wildgans als Weihnachtsgeschenk für die Drachs gemalt hat, auf der Rückseite gewidmet mit einem Gedicht. Das blaßgelbe, wuchtige Haus. Von hier floh Drach l939 nach Frankreich, in den französischen Widerstand.
Und hierher kam er zurück, um zu bleiben: Als Jurist in Mödling. als Bürger unter Bürgern, als Vergessener unter Vergeßlichen. Kaum ein österreichischer Autor war so lange und vollständig unbeachtet wie er, den Hans Henny Jahnn schon als Vierundzwanzigjährigen für den Kleist-Preis nominierte, der sein „Großes Protokoll gegen Zwetschkenbaum” (1939) und seine Vorkriegs- und Kriegsaufzeichnungen („ZZ, das ist die Zwischenzeit”, „Unsentimentale Reise”) erst in den sechziger Jahren veröffentlichen konnte. 1988 wurde Albert Drach der Georg-Büchner-Preis verliehen. Ein großes Erinnern setzte ein. Nicht das Vergessen noch das Erinnern scheinen Albert Drach gerührt zu haben. Er sitzt im Speisezimmer des Drachhofs und trinkt, seinetwegen, eine Tasse Tee.
Ein großer, grauer Papagei kreischt.
Sie besitzen einen Papagei, Herr Drach?
Ja. Ich besitze einen Papagei. Er spricht auch. Aber er spricht nur, wenn man das Zimmer verläßt. Dann spricht er sehr gut. Aber in der Gegenwart eines Menschen spricht er höchstens, wenn das Telephon läutet: „Hallo.“ Das ist das einzige. Und das spricht er in einer ironischen Art und Weise, daß der Betreffende sich verspottet fühlt.
Sie selbst haben einmal geschrieben, der Zynismus sei nur Anwendungsfall der Ironie.
Natürlich. Nietzsche hat einmal gesagt im Lauf seiner philosophischen Karriere: „Über große Dinge soll man schweigen. Oder groß sprechen. Groß, das ist zynisch und mit Unschuld.” Und daran hab’ ich mich gehalten. Ich konnte mich daran halten, weil ich immer auch über mich hinausdenken konnte.
Was heißt das?
Man muß auch ein Protokoll gegen sich selber schreiben können. Das habe ich in „ZZ, das ist die Zwischenzeit“ getan. Da hat’s dann geheißen. der Mödlinger Anwalt hat gegen sich selbst protokolliert. Hab’ ich gesagt, jawohl, denn der Frankfurter Anwalt hat in „Dichtung und Wahrheit“ ein Plädoyer zu seinen Gunsten gehalten, es blieb daher dem Mödlinger Anwalt nur noch ein Protokoll gegen sich selber übrig.
Im vergangenen Jahr wurde Ihr De-Sade-Stück, das „Satansspiel vom göttlichen Marquis“ uraufgeführt. Sie haben das Stück im Jahr 1926 geschrieben.
Jawohl. Ich habe es im Dezember 1926 begonnen. Und im Februar 1927 vollendet. Ich habe es in einem Verhandlungssaal im Bezirksgericht in der Riemergasse begonnen. Dort hab’ ich den ersten Akt geschrieben.
Die Aufführung war ein Erfolg. Wenn auch spät.
Ich mußte ja mit allem warten. Das Stück war bei seinem Erscheinen von Hans Henny Jahnn mit dem Kleist-Preis bedacht worden, aber das Stiftungskomitee unter Hans Martin Elster hat sich geweigert, ihn auszuzahlen, weil sie gesagt haben, für einen Sadisten geben s’ keinen Preis.
Der Preis ging dann an Anna Seghers.
Ja. Obwohl Jahnn mir gesagt hat, ich soll noch ein anderes Stück einschicken. Ich habe dann ein Stück hingeschickt. Das mein Vater mir geraten hatte, der davon nichts verstanden hat. Das war ein Stück, das ich mit sechzehn, siebzehn geschrieben hatte, das natürlich nicht gleichwertig war. Ich hab’ den Preis dann nicht ausbezahlt bekommen, der ging an die Seghers.
Erst nach dem Krieg gab es mit dem de Sade Versuche, zunächst Rezitationen durch gewisse Burgschauspieler, dann hat ein Burgschauspieler sogar im Rundfunk den de Sade gespielt, aber schlecht. Er war nicht geeignet. Ich merk’ mir die Namen nicht alle. Er hat sich dann später umgebracht.
Und danach ist bis 1991 nichts mit dem Text geschehen.
Nein. Aber davor ist etwas Interessantes geschehen. Im Jahr 1934 hat mir die Reichsschrifttumskammer geschrieben, der Direktor selbst war es. Der hat also auf das Stück hin geschrieben, er sieht in mir eine der größten Erfüllungen des deutschen Volkes, und er bittet mich, daß ich ihn in Mödling empfange. Ich hab’ den Brief nicht beantwortet. Dann bekam ich noch dreimal Vorschreibungen und wurde schließlich, angeblich weil ich ihnen nie einen Mitgliedsbeitrag bezahlt habe, aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Wahrscheinlich sind sie draufgekommen, daß ich Jude bin. Der Direktor hat damals noch hineingeschrieben, bei mir müsse er gar nicht forschen, ob ich in sonstiger Weise entspreche. er hat das Wort Rasse gar nicht verwendet. Er hätte natürlich nachschauen sollen.
Ein weiteres Stück, das „Kasperlspiel vom Meister Siebentot“, hat der Reichsschrifttumskammer weniger gefallen.
Das war ein Anti-Hitler-Stück. Sehen Sie die Uhr da drüben? Die hat auch ihre Geschichte.
Welche?
Mein Vater hat eine große Uhrensammlung gehabt. Und im Jahr 1935 habe ich dieses Stück geschrieben, das „Kasperlspiel”. Es wurde in Darmstadt uraufgeführt, wo ich später auch den Georg-Büchner-Preis bekommen habe. Und dort hatte ich eine Freundin, die nicht sehr verläßlich war. In meinem Buch ,,ZZ, das ist die Zwischenzeit” ist von ihr die Rede. Die hat mich bei der Partei angezeigt, dass ich ein Anti-Hitler-Stuck geschrieben habe. Glücklicherweise kannte sie aber nicht den Titel. Und dann tauchten die auf mit einem großen Sack, verlangten, daß ich alle meine Laden öffne, sie hatten auch das Stück in Händen, aber hatten es nicht als solches erkannt…
Haben sie es nicht gelesen?
Nein. Gelesen haben sie ein Gedicht: „Gott an seinen Propheten”. Das haben sie für besonders verdächtig gehalten. Sie haben es zu zweit gelesen. Es war ein Gedicht, in dem die fürchterlichen Leiden der Juden im Voraus beschrieben wurden. Scheinbar hat dieses Gedicht sie ergriffen, denn nach kurzer Zeit haben sie sich entschlossen, auf eine weitere Durchsuchung zu verzichten, und der eine der beiden, der mit dem Sack. hat gesagt: „Herr Doktor, wo sollen wir Ihnen diese Uhr hinstellen?” Die hatten sie schon als Andenken eingesteckt. Das ist die einzige Uhr der Uhrensammlung meines Vaters, die gerettet wurde. Auf Grund eines Gedichtes. Das war der größte Erfolg meines Lebens. Das Stück hat dann ein Onkel mütterlicherseits vernichtet. Der ist dann vergast worden.
Andere Texte sind gänzlich verschwunden. Wie der Großteil Ihres „Großen Protokolls gegen Zwetschkenbaum“.
Da, das Buch hatte noch drei andere Teile, die sind verlorengegangen, weil ich einen Schwager hatte, das war ein Analphabet. Er war zwar Milliardär, aber er konnte nicht lesen und schreiben. Dann ist er verarmt. Und er hat meine Sachen, soweit er sie nicht hat stehlen und verwerten können, beiseite geschafft, insbesondere vor dem Tod meiner Schwester, da hat er sie in die Wohnung eines alten Mannes. der im Sterben gelegen ist, gebracht, und dessen Erbe wollte er bekommen … Na ja. So kamen die Teile zwei, drei und vier des „Zwetschkenbaum” weg und meine sämtliche Schriften für die Rückgabe von Südtirol auch.
Was waren das für Schriften?
Ja, ich war ja derjenige, der am meisten für die Rückgabe gearbeitet hat, insbesondere im ersten öffentlichen Blatt der französischen Widerstandsbewegung stand ein Artikel von mir unter dem deutschen Titel „Von Kufstein bis Salurn – ein Tirol”. Diese Phrase ist nicht von mir. Sie ist von einem berühmten Südtiroler. Der Text war natürlich französisch, sechs Seiten lang. Zur Zeit, wo ich nach Frankreich geflohen bin, da war, besonders in Südfrankreich, der Zorn auf die Italiener ein viel größerer als der auf die Deutschen. Und daher konnte ich dort – ich war ja in Nizza – ankommen mit meinen Sachen.
Was haben Sie getan?
Ich habe dem Renner geschrieben.
Den kannten Sie?
Den kannte ich von früher. Aus der Zeit, wo bei den hochqualifizierten Bürgerfamilien noch ein Sozi und ein Jud‘ eingeladen waren. Das war knapp bevor der Hitler gekommen ist. Ich habe damals den Renner als Tischdame bekommen. Er hat mir die ganze Zeit über sein Buch über den Skarabäus erzählt, also über den Mistkäfer. Obwohl ich von Mistkäfern nichts wußte und mich auch gar nicht für sie interessierte. Ich kann mich noch erinnern, mir gegenüber saß eine entzückende Dänin, eine Schauspielerin, und sie hat als Tischherren den Sohn des deutschen Botschafters in Paris gehabt. Nach dem Essen bin ich denen nach, die sind einem Lusthaus zu, und ich hab’ mir gedacht, vielleicht kann ich die ihm doch noch abspenstig machen. Aber auf einmal höre ich mir ins Ohr raunen: „Also Herr Doktor, wo waren wir mit dem Skarabäus?” Damit war alles aus. Also habe ich später dem Renner geschrieben: „Jetzt geht’s nicht mehr um den Skarabäus, Herr Doktor. Jetzt geht’s um Südtirol.”
Unter den Südtirol-Aktivisten gibt es eine deutschnationale Gruppe.
Sicher waren auch Nazis dabei. Aber auch Antinazis.
Und heute?
Na, es ist ja so, wenn Sie in Österreich herumschauen, wie die Bevölkerung denkt… Soweit Sie überhaupt denkt, sind es Nazis. Denn wenn die anderen denken würden, so würden sie gesehen haben, was bei solchen Sachen herauskommt. Österreich ist ja nur durch ein Mißverständnis aufrechterhalten worden. Weil kein Mensch gewußt hat, was hier vorgeht. Die großen Naziverbrecher waren ja nicht aus dem Altreich. 40 Prozent sind von hier gekommen.
Sie haben einmal behauptet, daß der Antisemitismus in Österreich nie aufgehört hat.
Ja. Der ist nie zur Ruhe gekommen. Und der ist beute noch genauso stark wie damals. Unlängst hat eine Umfrage ergeben, daß ein großer Teil der Bevölkerung glaubt, es gibt 800.000 Juden in Österreich. In Wirklichkeit sind es nicht einmal 8.000. Aber das sind eben die Leute, die nicht denken. Der Halbtrottel ist der Führer der Antisemiten. Was war denn Hitler? Ein durchgefallener Sekundaner. Es ist viel leichter, eine ganze Bevölkerung auf den Trottelstatus herunterzudrücken, als sie aus diesem Status heraus zur Intelligenz zurückzuführen. Bei manchen ist das ja unmöglich, das sind die Krankhaften. Aber in Osterreich liegt der Prozentsatz der Antisemiten noch immer bei 60 Prozent, und davon sind mindestens 40 Prozent reine Nazis. Und ich glaube. wenn der Haider nicht die Erklärung abgegeben haben würde, daß es im Dritten Reich immer Arbeit gegeben hat, daß er nicht einen Stimmenzuwachs in der Höhe bekommen hätte.
Sehen Sie sich persönlich mit Antisemitismus konfrontiert?
Persönlich im Augenblick nicht. Aber bitte, es kommen schon Leute vorbei, die sich räuspern, wenn sie mich sehen. Dieses Räuspern erkenne ich, wenn ich es höre. Ich bin ja blind. Aber dieses Räuspern erkenne ich…
Zurück zu Ihrem „Kasperlspiel“: Der Kasperl ist eine Figur, die alles Gehörte nachspricht.
Ja. Das ist das Wesentliche. Insbesondere spricht er Schlagworte nach. Alles das sammelt er auf, und aus diesem Kuddelmuddel gibt er dann irgendwas wieder zurück. Dadurch findet jeder Mensch etwas bei ihm, was ihm gefällt. Und das ist das Geheimnis der Anthropo-Trottologie. Daraus hat man diesen Zustand der Dummheit erreicht, durch den Hitler erst zur Macht gekommen ist. Weil es eben immer so ist, daß die dümmsten Menschen die höchste Macht erreichen. Nehmen Sie Chamberlain. Der Chamberlain hat nicht einmal gewußt, wo Polen ist. Er hat den Hitler aufrüsten wollen, damit er gegen Rußland vorgeht. Er hat aber ,,Mein Kampf” nie gelesen, und er wußte nicht, daß Polen zwischen Deutschland und Rußland liegt. Er war zwar früher Postminister, bevor er Ministerpräsident wurde, aber offenbar hat er vergessen, seinen Briefträger zu fragen, wo Polen liegt. Es kann nur dadurch ein unfähiger Mensch zur Macht gelangen, wenn auf der Gegenseite auch wieder Leute sind, die ihren Aufgaben nicht gewachsen sind, die sehen, wie die Dinge stehen, und trotzdem gar nichts tun, um das Unheil abzuwenden.
Vor einiger Zeit ist die Neuauflage Ihrer „Untersuchung an Mädeln” erschienen. Im Untertitel heißt es: ,,Ein Kriminalprotokoll”. Wieder ein Protokoll, wenn auch aus dem Jahr 1961. Was hat Sie so an dieser Form fasziniert?
Es fasziniert mich, daß man alles sagen kann mit einem Schein von Wahrheit. Und es fasziniert mich, daß die Deutschen, die nie einen Roman gehabt haben bis jetzt, die nichts anderes haben als eine Sammlung von nicht zusammenhängenden Dingen und Gefühlsduseleien ihrer Helden, damit gezwungen werden, alles gegen diese Helden zur Kenntnis zu nehmen.
Schauen Sie, wenn Ihr Held trotzdem am Ende übrigbleibt, dann ist sein wirklicher Wert gegeben, und dann haben Sie unter Umständen eine interessante Sache gemacht. Sie haben einen Teil der Wirklichkeit und der Wahrheit in Ihr Werk gebracht. Sie haben nichts versüßt, es ist kein Sacharin drin und kein Zucker, und es ist nichts zum Ausfüllen hineingetan, was nicht hineingehört. Und so hoffe ich, daß ich für die Deutschen den Roman gebracht habe.
Durch Ihre Protokolle?
Ja.
Ihr Verhältnis zur österreichischen Literatur gilt als nicht sehr gut.
Nein. Weil die österreichische Literatur auch nicht sehr gut ist. Es ist das Mittelmaß, das immer herausgestrichen und mit dem höchsten Lob und den höchsten Preisen versehen wird. Wenn einer groß ist, dann sieht man über ihn hinweg, der Musil, der zwar keinen Roman, aber eine Generalaufnahme alles dessen, was in dieser Zeit geschehen ist, geschrieben hat, der also eine der größten Leistungen erbracht hat, die überhaupt je von einem Österreicher zu erringen waren, der Musil hat in Deutschland einen halben Kleist-Preis bekommen, und den für Theaterstücke. die ja nicht so hervorragend waren wie seine epische Leistung, in Österreich gar nichts, und was Kafka anlangt, der vielleicht der zweitgrößte war, so hat er überhaupt nichts bekommen, keinen Preis, nirgends. Und nur ein Bruchteil seiner Sachen konnte gedruckt werden.
Worauf führen Sie denn diese Furcht vor Größe zurück?
Wahrscheinlich darauf, daß sich niemand anstrengen will. Es will niemand arbeiten, niemand will eine Leistung vollbringen, jeder will auf leichte Weise seinen Lebensunterhalt erbringen, und auch die Kunst ist etwas Schwieriges. Man muß nichts konstruieren, aber man muß wenigstens wissen, was zu sagen ist.
„Die Welt” hat über Sie geschrieben, Sie hätten konsequent wie kein anderer Autor am Literaturbetrieb vorbeigelebt.
Es hat mich nicht interessiert. Ich habe bemerkt, daß im Literaturbetrieb die Nicht-Kenner versammelt sind, um dort für die Nicht-Könner ein Herz zu zeigen. Das heißt, ich verstehe unter einem Nicht-Könner auch das Mittelmaß. Auch wenn einer ein bissel was kann, ist er für ein Land gefährlich, das auch große Leute haben könnte. Dieser Literaturbetrieb war immer ein Schwindel. In Hamburg war ich nach einem Vortrag, den ich gehalten habe, einmal zum Fest eines Kritikers, das der zum runden Geburtstag einer Freundin gemacht hat, eingeladen. Die Dame des Hauses hat mich sehr nett empfangen, es waren an die hundert Leute versammelt. Ich wollte mich an ihren Tisch setzen, weil ich gesehen habe, dort gibt es noch was zu essen, sie hat gesagt: „Nein, Herr Doktor. bitte gehen Sie noch weiter, Sie sind im letzten Zimmer vorgesehen:“ lm dritten Raum stand ein Herr vor einem leeren Stuhl, und der stand schräg gegenüber dem Kritiker. Auf diesen Stuhl mußte ich mich setzen, vor einen leeren Teller. Ich habe gewartet, daß man mir was bringen wird, man hat mir nichts gebracht. Die anderen haben ihre Reste gegessen, und ein Herr zu meiner Rechten hat mir immer Wein eingegossen, das war alles, was ich auf nüchternen Magen bekam. Und zur Linken saß einer dem Kritiker gegenüber, der ihn immer aufgefordert hat, über ein neues literarisches Thema oder über eine Zeitung zu sprechen. Und was er dann gesprochen hat, schien mir äußerst schwach. Ich will mich jetzt nicht mit jenem Ausdruck äußern, den ich damals gefunden hatte, als ich lange genug dagesessen bin, ohne was zu essen. Und wie der Kritiker dann über die „Literary Review” der „Times” geschimpft hat, da bin ich aufgestanden, habe ihn unterbrochen und habe eben erklärt, daß das Ganze, was er vorbringt, ein flacher Unsinn ist und daß es besser wäre, wenn er aufhört zu reden und lieber seinen Gästen etwas zu essen gibt. Ich habe sehr laut gesprochen. Man hat es überall gehört. Dann ist ein großes Schweigen eingetreten, und ich habe mich entschlossen, wegzugehen. Vorher war ich noch auf der Toilette. Da ist er mir nachgelaufen. Wahrscheinlich hat er geglaubt, ich bin betrunken.
Sie erzählen von Marcel Reich-Ranicki?
Jawohl.
Ihre Fehde mit ihm ist legendär. Sie lassen keine Gelegenheit aus festzustellen, daß Sie ihn für keinen besonderen Kritiker halten.
Ich halte ihn für überhaupt keinen Kritiker, sondern für einen Menschen. der zuerst einmal die deutsche Sprache lernen müßte. Er hat seinerzeit über mich geschrieben, wie ich den Büchner-Preis bekommen habe: „lauter Unglücke”. Damit meinte er mich und zwei andere Preisträger. Darauf habe ich erklärt, daß er nicht einmal weiß, daß „Unglücke” nur in der Einzahl vorkommen kann und nicht in der Mehrzahl. Es ist ihm zugute zu halten. daß er seinerzeit schon ganz erwachsen aus seinem Land gekommen ist, wo Deutsch nur am Rande gesprochen wurde, und daß er eine ganz andere Sprache hatte. Aber: Er hätte die deutsche Sprache auch nicht zu strapazieren gebraucht, weil er das einzige Unglück ist. Das habe ich damals erklärt. Und es ist über mehrere Rundfunkstationen gegangen. Und gleichzeitig hat mir Dürrenmatt ausrichten lassen, daß er mich beglückwünscht, weil ich endlich zu meinem Preis gekommen bin, und ich soll mich nicht kränken, daß es so lange gedauert hat. Bei ihm hätte es auch lange gedauert. Und es gäbe in Deutschland nur ein Unglück, das sei der Marcel Reich-Ranicki.
Trotz des großen Erfolges, den Sie in den sechziger Jahren mit Ihrem „Zwetschkenbaum“ hatten, haben Sie nie aufgehört, als Jurist zu arbeiten.
Es ist mir nichts anderes übergeblieben. Meine Schwester, die sich mit meiner Mutter nicht verstanden hat, hat, um aus dem Haus zu kommen, einen Trottel geheiratet. der sehr reich war.
Jenen Schwager, der Ihre Manuskripte verschwinden ließ?
Ja. Das ist der. Solange er Geld hatte, hat er es verschwendet. Er hat immerhin über mehrere Millionen verfügt. Und das hat er mit Kutschern auf dem Rennplatz verspielt. Er hat selber Pferde gehabt, und die Kutscher haben ihn gewinnen lassen, was ihm sonst vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Dafür hat er mit den Kutschern Karten gespielt. Ich kann mich erinnern, wie ein polnischer Baron einmal mit ihm gespielt hat. Der Baron hat gewonnen, und dann hat er erklärt: „Hier haben Sie Ihr Geld zurück. Sie kennen ja nicht einmal die Karten. Sie haben zehnmal ein großartiges Blatt gehabt und ich ein schlechtes, ich habe trotzdem gewonnen, ich bin kein Räuber, da haben Sie Ihr Geld zurück.“ Aber die Kutscher auf dem Rennplatz, das waren Räuber. Meine Schwester war eine der schönsten Frauen ihrer Zeit. Das wurde auch in der ganzen Welt anerkannt. Sie sind überall hingefahren. Er ist ja nur schweigend in Erscheinung getreten. Er durfte ja nicht das Maul aufmachen. Sonst hätte man gesehn, was für ein Trottel er war. Nur wenn über Pferde gesprochen wurde, dann konnte er reden. Eventuell auch über Wagen. Er hat zwar jeden Wagen nach drei Monaten kaputtgefahren, aber deswegen hat er auch alle gekannt.
Sie mußten für Ihre Schwester sorgen?
Ja. Weil sie verarmt war, mußte ich für sie sorgen. Es gab ja sonst niemanden. Also mußte ich Anwalt sein. Später habe ich weitergearbeitet, um dieses Haus wieder herzurichten. Gelungen ist mir das dann eigentlich aber erst mit dem Büchner-Preis.
Haben Sie es je wirklich darauf angelegt, von Ihrer Schriftstellerei zu leben?
Natürlich. Als Schriftsteller konnte ich aber nicht ankommen. Das „Große Protokoll gegen Zwetschkenbaum” erhielt sechzehn Ablehnungen, erst das siebzehnte Mal ist es angenommen worden. Interessant ist eines: Bei dem Verlag in Wien, bei dem auch Doderer seine Sachen herausgab, hab’ ich den „Zwetschkenbaum” eingereicht. Da saß eine Frau, und die war ursprünglich begeistert von meinem „ Zwetschkenbaum”, weil sie geglaubt hat, es ist ein Protokoll gegen die Juden. Dann hat sie’s mir aber zurückgegeben und hat gesagt: „Herr Doktor, das tut mir leid, ich habe gedacht, das ist ein Buch gegen die Juden, das hätte ich genommen. Aber für die Juden, das kann ich nicht. Dazu ist die Zeit nicht reif.“
Es scheint Ihr Schicksal, daß Sie immer wieder zu großem Erfolg kommen, etwa 1964 bei Erscheinen des ,,Zwetschkenbaum”, dann 1988 mit dem Büchner-Preis, dazwischen aber vergißt man Sie.
Völlig vergessen hat man mich nicht. Es war Pech. Ich hatte plötzlich keinen Verleger mehr. Denn die zwei Verleger, die ich hatte, die sind typische Unfähige gewesen. Der erste hat, nachdem mein fünftes Buch erschienen war, eine dünne Frau kennengelernt. Er hatte vorher eine große starke Frau. die ihn geprügelt hat, und, wie sich zeigt mit Recht. Dann hat er eine Dünne bekommen, deren Leute diese Heirat gar nicht wollten. Und er hat dann den Verlag verkauft an einen Menschen, der nicht besonders gut beleumundet ist. Den wollte ich nicht haben. Da bin ich weg.
Dieser, Ihr erster Verlag war Langen-Müller. Der an die Fleissner-Gruppe verkauft wurde.
Ja, der Fleissner. Er war eben auch bei mir. Mit Weib und Kind, um mich zu halten. Aber ich habe einen negativen Eindruck von ihm gewonnen.
Und dann?
Ich hatte drei Möglichkeiten, und leider habe ich die schlechteste benützt. Ich bin zum Claassen-Verlag. Da bin ich vom Regen in die Traufe. Der wurde plötzlich an einen Herrn von Wehrenalp verkauft, der bis dahin mit Schund und mit schreiendem Zeug im Econ-Verlag sehr viel Glück hatte. Mit Literatur hatte er eben kein Glück. Und nach einiger Zeit ist er zugrund’ gegangen. Er hat nur in Luxushotels gewohnt, und am Schluß nur noch in Schlössern. Das hat nicht einmal der Econ-Verlag getragen. Dann hatte ich keinen mehr. Als sich endlich wieder Verleger für mich interessiert haben, war ich in der Zwischenzeit erblindet.
Jetzt sind Sie aber im Hanser Verlag. Und ich habe gehört, Sie schreiben trotz Ihrer Blindheit.
Ja.
Sie werden bald 90, Herr Drach.
In der Tat. Im Dezember werde ich 90. Manche glauben mir das nicht.
Ein stolzes Alter!
Was ist stolz? Man wird würdigen, wie man immer würdigt, wenn man zwischendurch auf jemanden vergessen hat. Man wird auch Zeitungsartikel schreiben. Das Wichtigste: Bei Hanser kommt zum Geburtstag ein Buch heraus. Sonst wird nicht viel sein. Ich werde mich meistens hier im Haus aufhalten.
Schreiben Sie an etwas Neuem?
Selbstverständlich.
Woran?
An Überblicken aus der derzeitigen Sicht. Über einzelne Ereignisse aus dem Ganzen.
Aus Ihrer Biographie?
Nicht nur aus der Biographie. Es sind Spaziergänge aus der Gegenwart und dergleichen, über die ich schreibe, und dann vergleichsweise auch etwas von seinerzeit. Aber es kommt auch anderes vor. Ich habe zum Beispiel wieder eine Vogelgeschichte vor. Kennen Sie meine Vogelgeschichten?
In den „Kleinen Protokollen“ kommt eine vor.
Die früheste. Aber es gibt noch andere… Mein Vater hat die Vögel derartig gefüttert, daß, wie er gestorben ist, die wildesten Vögel zum Fenster hineingeflogen sind. Weil er sie nicht mehr gefüttert hat. Später habe ich versucht, es ihm nachzutun.
Was ist Ihre Beziehung zu Vögeln?
Ich liebe die Vögel am meisten. Allerdings habe ich immer Vorlieben gehabt. Das war zum Beispiel der Kleiber. Dann verschiedene Sorten der Meisen, die jetzt schon aussterben, weil man nichts für sie tut, aber alles gegen sie. Die Blaumeise, die Waldmeise, die Kohlmeise. Und Spechte… Mein Vater hat es ja dazu gebracht, den Brehm zu widerlegen. Der hat in der ersten Auflage der „Tierleben” geschrieben, daß die Spechte nur in die Horizontale gehen, um zu sterben. Bei meinem Vater sind sie in die Horizontale, um zu fressen.
Ich weiß nicht, ob es ein Zufall oder ein Wunder war, aber als mein Vater tot war, sind auf dem Friedhof zwei Grünspechte aufgetaucht. An der Stelle, wo er begraben ist.
Sie wohnen hier friedlich in der Bürgerlichkeit von Mödling, einer sehr österreichischen Stadt. Und haben zu diesem Land ein ambivalentes bis haßerfülltes Verhältnis.
Ich kenne keinen Menschen, nicht wahr. Ich spreche mit niemandem.
Besucht keiner den berühmten Mödlinger Albert Drach?
Gut. es kommen hie und da einige Mädeln herauf. die beim Rundfunk in Kontakt sind, oder solche, die Literatur studieren und über mich schreiben. Da gibt es doch einige. Und die Frau Doktor Schobel kommt auch. Die liest über mich an der Universität vor. Es kommen viele Leute hin. Man hat mir gesagt, daß nur beim Hofmannsthal mehr Leute sind. Aber das stört mich nicht.
Hofmannsthal ist tot.
Ja. Und außerdem war er schlecht.
IA UND NEIN Zu Albert Drachs neu erschienenem Buch
Fall 1: IA. Man schreibt „die Stunde Null des neuen Jahres Null”. Das Szenario: die Apokalpse. „Ein Vernichtungskrieg sondergleichen“ ist um die „ganze rundliche Erdkugel” gegangen und hat außer 16 Herren jenseits der Sechzig und einem neugeborenen Säugling alles Leben vernichtet. Der Ort: ein Musterbunker im „freiesten und neutralsten Land der Erde”, darin ,,Luft und Essen sowie auch Trinken für ein Jahrhundert gespeichert”.
Drach hat seiner Geschichte einen Urlaut zum Titel gegeben. Er tönt in den Ohren der alten Männer wie eine Fanfare, die zur Fortsetzung der wenngleich sinnlosen, so doch nicht enden dürfenden Geschichte menschlicher Existent ruft. Die groteske Greisenrunde sitzt nämlich über das neugeborene Kind weiblichen Geschlechts zu Gericht und erörtert in obszöner Weise die Frage, „wie es zu einer, noch dazu fruchttragenden Verbindung zwischen Nichtmehrmann und Fastnochembryo kommen” könnte.
Einmal mehr verhandelt der Jurist Drach in seiner eigentümlichen Sprache, diesem verschrobenen, von Sarkasmen und substantivischen Trapezakten durchsetzten Justitiardeutsch die Tatsache, daß das Recht ein Machtverhältnis ist und der Zynismus eine Form von Gelassenheit gegenüber den Dingen. Phlegmatisch, nihilistisch, zu Tode betrübt wird Drach freilich nie, er ist böse, scharfzüngig, seine Sprache blitzt auf wie ein geschliffenes Messer.
Lächerliche Kombattanten bevölkern dieses Drachsche Gruselkabinett: Da ist Bodo Pubello, „ein Sizilianer aus dem früheren Südtirol”, der „Plebokrat Svatopluk Sauerampfer, auch SS geheißen“, oder der Herr Alois Hüpferling. den Drach bekennen läßt, „auch einem Mummelgreis mache es Spaß, sich über ein anderes Objekt herzumachen (…). Und wenn das Objekt dabei draufginge, wäre dies im Programm inbegriffen, nur sei vorzusorgen, daß es bis dahin sehr oft noch Gelegenheit bekomme, ein ängstliches oder gequältes IA auszustoßen.“
Als schließlich der 84jährige Alfons Brustlein auf sein Hermaphroditentum verweist, „dieserhalb ihm im Verlaufe dauernder Eigenbefriedigung ein ganz hübscher milchspendender Busen gewachsen sei, welchen er nunmehr, weil Not am Mann bestünde, vollinhaltlich dem neuen Säugling zur Verfügung stelle”, ahnen die Herren nicht, dass sie mit ihrem Fortpflanzungswahn ihr Schicksal besiegelt haben. „Nach der Milchzufuhr“ nämlich wächst das Neugeborene bis zur Decke und raubt den Herren den Sauerstoff. 15 von ihnen ersticken. Das Riesenbaby öffnet die Luftzufuhrluke und stößt ein kräftiges IA aus, was wiederum den überlebenden Kanzler Benno Käuzl zu der absurden Äußerung veranlaßt: „Das Kind hat IA gesagt“. Verstreut sind diese drei knappen Geschichten in den achtziger Jahren in Zeitschriften und Anthologien erschienen. Zum 90. Geburtstag des Autors legt sie der Hanser Verlag erstmals gesammelt in Buchform vor. Ihr gemeinsamer Kern: ein Laut, ein einzelnes Wort als Rückgrat. In diesen strukturellen Bogen spannt Drach verschrobene, widerborstige, die Logik persiflierende Geschichten.
In Fall 2, dem Protokoll UND, geht es um den Richter Alois Balduin Huntzinger, dem von allen Bindewörtern „<und> am widerwärtigsten” ist. Die gleichsam programmatische Begründung, „daß das verbindende <und> Nennungen, Behauptungen, Bezeichnungen in einen Zusammenhang brächte, der (…) oft dazu diente, die Unterschiede zwischen einander Entgegengesetztem im Vortäuschungswege aufzuweichen oder geradezu auszugleichen.” Der Richter verschwindet, und die merkwürdigsten, stark ins kriminalistische neigenden Ungereimtheiten seines Lebens begegnen dem Leser – bis schließlich alles beim alten ist. Nur daß wieder einmal eine „Weibsperson“, des Richters ältliche Wirtschafterin, auf der Strecke bleibt.
Die dritte Geschichte schließlich erzählt die Wirren und Krisen eines Beamten um seine Identität. Ist er nun Jude oder nicht? Heißt er Max Mayer oder Jakob Weißschopf? „Schlinge sich ihr eigenes Wort, wie ein Strick um ihren Hals”, heißt es einmal bei Drach. Aus Angst, Ekel und Abscheu vor der Wiederholung der Geschichte sagt der Jude zum Schluß nur ein Wort: „und das war Nein, wobei er sicher nur sich selbst gemeint hat“.
Andrea Hurton
Albert Drach: IA UND NEIN.
Drei Fälle. Hanser Verlag, München,
104 Seiten, öS 202,80.
(Aus Bühne, November 1992).