Alexandra Millner

Eine Allegorie des Lesens

„Es folgt: Das Goggelbuch (Es beschreibt, wie ein deutscher Diener sich im Spiegel betrachtet, diesen zerschlägt und derselbe trotzdem ganz bleibt.)“[1]

Albert Drach lenkt mit diesem Motto, das in einem Manuskript des „Goggelbuchs“, nicht aber in der publizierten Version zu finden ist, die Aufmerksamkeit des Lesers von dem ursprünglich im Vordergrund stehenden „Werden eines deutschen Dieners“[2], einem an äußeren Merkmalen nachvollziehbaren Geschehen, auf ein Motiv des Textes, das die Introspektion des Protagonisten erwarten läßt: auf den Spiegel.

 

Vor dem Spiegel

Vor dem Spiegel nimmt das eigentliche „Goggelbuch“ seinen Ausgang, hier erst steigen die Leser in die Geschichte des Protagonisten ein, dessen auffälligste Eigenschaft in eben dieser Fähigkeit zur Selbstbetrachtung besteht. Bei Xaver Johann Gottgetreu Goggel haben wir es mit dem ältesten nachweisbaren Vorfahren, dem Stammvater des Klaus Xaver Johann Guckelhupf, zu tun, der bei der Erstellung seines Ahnen- oder besser Ariernachweises auf den biographischen Bericht Goggels stößt. Dieser Goggel erweist sich von Anfang an als jemand, der scheinbar im Widerspruch zu den äußeren Umständen existiert: Trotz mehrfacher Bearbeitung durch seine Nachfahren – und diese scheinbaren Widersprüche sind allesamt dem Text entnommen – scheint der Bericht nichts an seiner Ursprünglichkeit eingebüßt zu haben, trotz Verschriftlichung ist die „reine Einheit der Seele eines deutschen Dieners mit seinem Gotte“[3] spürbar, trotz seines niederen Standes und seiner Zeit – wir befinden uns in der frühen Neuzeit – erlaubt er sich, über seinen Gott nachzudenken, und trotz seiner Nationalität betrachtet er sich im Spiegel, was ihn auf die Widersprüchlichkeit seiner Existenz zurückwirft und zugleich – laut Motto des eigentlichen „Goggelbuchs“ – aus der Reihe seinesgleichen heraushebt: „Mithin das Goggelbuch, welches gleich mit der Feststellung beginnt, daß ein deutscher Mann sich niemals in dem Spiegel sehe, es sei denn zum Trotz.“ (8)

 

Hierauf schaltet sich die kommentierende Stimme des Erzählers ein, die das Motto relativiert, es als „allegorische Meinungsäußerung“ (8) bezeichnet[4], indem sie auf die pragmatische Funktion des Spiegels hinweist. Um seine Funktionalität zu unterstreichen, wird der Spiegel buchstäblich mechanisiert, wird zum „Rückstrahlungsgerät“(8) bzw. „Besehungsapparat“[5] umbenannt. Doch Goggel benutzt den Spiegel weder zum Binden der Krawatte, noch zum Rasieren oder Frisieren, er gebraucht ihn allein zur „eingehenden Besichtigung seiner Person“ (8).

Der Übergang zur Neuzeit zeichnet sich durch die Ablöse des hochmittelalterlichen Verständnisses von Selbstreflexion aus, das nur „vereinzelte[nl religiöse[n] Menschen, Dichter[n], Philosophen“[6] vorbehalten war, durch die allmähliche Ausbreitung dieses Selbstverständnisses auf eine neu entstehende Mittelklasse. Dieser Schritt ist im vorliegenden Text noch nicht vollzogen, vielmehr wird Goggels Selbstbetrachtung einem Mißbrauch gleichgesetzt oder, wie Albert Drachs Erzähler es nennt, einer „Herausforderung“ (8) des Spiegels.

Wie nähert sich nun einer, dem die Selbstreflexion standesgemäß verwehrt ist, seinem eigenen Spiegelbild? Goggels Blick in den Spiegel trifft sein spiegelverkehrtes Erscheinungsbild, bleibt an dessen Merkmalen hängen, um schließlich daraus Rückschlüsse auf innere Eigenschaften zu ziehen. (Vgl. 8-9) Goggel ist damit ganz auf der Höhe seiner Zeit, produzieren doch Erasmus von Rotterdam und seine Zeitgenossen eine wahre Flut an Physiognomiken.[7] So wird aufgrund des physiognomischen Vorgehens die physische zur psychischen Konfrontation, zur Reflexion im übertragenen Sinn. Goggel macht vor dem Spiegel die originäre Erfahrung der Selbstbewußtwerdung und repräsentiert somit das neue Selbstverständnis des Menschen, den Anbruch einer neuen Zeit, die Neuzeit schlechthin.

Die Bestandsaufnahme seines Äußeren ergibt das „unauffällige“ Bild eines typischen Vertreters seines Standes und seiner Zeit, das auf seine charakterlichen Eigenschaften rückbezogen wird – er ist defensiv, starrsinnig, engstirnig, kämpferisch, was wir heute vielleicht „hartgesotten“ nennen würden, und ein Beweis der „Erziehung zur Arbeit durch Notwendigkeit und Herkunft“ (9). Die Gesetze der Physiognomik werden jedoch durch seinen „trotz niederer Stirn nicht [...] mindere[n] Witz“ gebrochen: Was dem „deutschen Manne“, der im gesamten Text nicht gerade mit schmeichelhaften Attributen versehen wird, im allgemeinen vom Erzähler abgesprochen wird – nämlich die Fähigkeit der Selbstreflexion – [8] das scheint Goggel zu gelingen; was ihm zugesprochen wird – nämlich die Fähigkeit zur Eingliederung – daran scheitert Goggel und wird dadurch zum literaturwürdigen Helden. Durch die Selbstreflexion wird ihm seine Lage bewußt, und er macht sich daran, sie zu verändern: ‘,[. . .] der Masse gleich an Beschaffenheit, aber überlegen durch Kenntnis dieses Umstandes, beschließt er, von Haus aus nicht zu erben bestimmt, der Bestimmung langsam und beharrlich ein anderes Bette zu graben.“ (9-10) Was im Anspruch auf Individualität angedeutet wird, zeigt sich hier und in Goggels folgenden Gedanken über seinen mysteriösen Herrn Baron Eugen von Hahnentritt erstmals deutlicher: Wir haben es mit einem klassischen „overreacher“ zu tun. Dem ist daran gelegen, die ihm vorgegebenen Grenzen zu überschreiten oder – um den von Albert Drach verwendeten Vergleich fortzusetzen - nach Früchten zu greifen, die er nicht erreichen kann, da sie zu hoch hängen[9] – die ihm also von Standes wegen nicht zustehen und ihm durchaus auf den Kopf fallen können. Der feste Platz innerhalb dieser Standesordnung findet auch äußerlich Ausdruck: „In gegenwärtiger Zeit gebe freilich ein Titel viel, ein Kleid aber weit mehr. Die Eigentracht sei allerdings gebürtigem Adel vorbehalten. Dem Volksmann bleibe so nur übrig, sich in eine schon vorhandene Livree zu kleiden, in die er passe.“ (10) Goggels Plan, durch List allmählich die Position des Herrn zu usurpieren oder zumindest dessen Besitz auf sich übergehen zu lassen, steht natürlich seine durch die Livree auch äußerlich festgeschriebene Rolle als Diener entgegen. Deshalb zerschlägt er sein unerträglich gewordenes Spiegelbild und schafft symbolisch Platz für neue Möglichkeiten, zerstört das im Spiegel zu sehende Bild der repräsentativen Livree und meint damit das Repräsentierte. „Mit dieser hochfahrenden Hoffnung Seifenblasen von sich pfeifend, greift Goggel nach dem strafenden Stein, der dem gegenwärtigen Spiegel zugunsten des künftigen unrecht gibt, indem er denselben in eine Lage versetzt, aus der er eines Widerspruchs nicht mehr fähig ist.“ (10-11) Den Diener, dessen Selbstreflexion weder durch einen religiösen noch durch einen philosophischen oder poetischen Hintergrund legitimiert und abgesichert ist, stürzt die durch die Selbstbewußtwerdung initiierte Unsicherheit ehemals festgeschriebener Entitäten in ein Dilemma, das durch sein ihm somit unerträglich gewordenes Spiegelbild verkörpert wird: Spiegelbild und Gespiegelter bilden keine Einheit mehr, sie symbolisieren die Divergenz zwischen Fremdbild und Selbstbild. Der Schrecken über sein eigenes Bild, den Thomas Kleinspehn in der Emanzipation des Bildes und der damit einhergehenden Entfremdung des Objekts in der frühen Neuzeit angelegt sieht, führt zur Zerstörung desselben.[10]

 

Im Spiegel

Mit dem Zerschlagen des Spiegels könnte das „Goggelbuch“ schon wieder zu Ende sein, fängt aber noch einmal von vorne an, indem es sich – so könnte man auf den ersten Blick meinen – dem Urbild des nunmehr zerstörten Spiegelbildes widmet. Auch hierin zeigt sich der Text der früheren Fassung eindeutiger formuliert, denn der Spiegel, den er nun zerschlägt, wird als „die sein Leben wiederstrahlende Fläche“[11] bezeichnet, was als Überleitung zum Inhalt des restlichen Textes verstanden werden könnte. Wenn nun das „Goggelbuch“ ein zweites Mal beginnt, dann um diese Fläche im doppelten Sinn zu beschreiben, wodurch der Auseinanderfall von Spiegelbild und Gespiegeltem, der Beginn der Krise des Subjekts zusätzlich veranschaulicht wird.

Zurück zur wörtlichen, zur Initialbedeutung: Es folgt die Beschreibung der Erlebnisse des Dieners Goggel in chronologischer Reihenfolge; der Leser glaubt sich jetzt endlich nach eigentümlicher Einleitung in der Mitte des eigentlichen Geschehens, begleitet den Protagonisten auf die hindernisreiche und abwegige Reise zu seinem Herrn nach Osnabrück und teilt sein Schicksal, das ihn immer wieder wie zufällig und ohne Eigenverschulden an Frauen und Geld und mysteriöse Herren kommen läßt, die er ebenso zufällig wieder verliert, wie seinen Hund Wonnemund und drei Finger seiner Hand – die die er schließlich doch wieder zurückerhält. Bis kurz vor Ende des Buches scheint Goggel immer wieder von neuem das Ziel zu verfolgen: das vom Selbstbild bis dahin ununterscheidbare Fremdbild vom braven, einfachen Diener abzuschütteln, der Rolle des armen Untergebenen zu entschlüpfen, was ihm auch zeitweilig - wenn auch nur zufällig - gelingt. Doch am Ende befindet er sich wieder am Ausgangspunkt:

Hier drängt es Goggeln, Protest einzulegen, doch wird er im Winde mittels Teufelsgefährt sogleich in seine Wohnung gebracht, woselbst er sich alsbald, Grimassen schneidend, wieder vor seinem Spiegel findet.

Dieser ist noch immer ganz. Auch die Finger an der Hand sind in Ordnung und fehlt keiner. Er trägt dieselbe Livree wie am Eingang des Goggelbuchs. Seine Suppe steht noch immer auf dem Feuer. So ist es ihm klar, daß er sein Zimmer niemals verlassen hat –.Offenbar hat er alles nur im Spiegel gesehen, der ja unzerschlagen verblieben. (93)

Das Paradoxon eines zertrümmerten Spiegels, der ganz bleibt, und einer auf eben dieser Spiegelfläche vermittelten traum- oder alptraumhaft-unwahrscheinlichen Handlung regen zu einer allegorischen Lesart an. Der Spiegel hat im „Goggelbuch“ demnach nicht nur symbolische Bedeutung, sondern übernimmt auch die Funktion eines Scharniers zwischen Text und Praetext. Der Unterschied zwischen beiden wird vor dem Spiegel und durch die Spiegelerfahrung erst deutlich und äußert sich inhaltlich, zeitlich und räumlich:

Am Ende des Buches, als Goggel bewußt wird, daß er alles nur im Spiegel gesehen hat, stellt sich heraus, daß der Text noch einmal neu überdacht werden muß. Die Reise Goggels zu seinem Herrn ist demnach nicht der äußeren Handlung zuzuordnen. Sie ist keine lineare Fortführung einer Geschichte, die an jenem Punkt ansetzt, an welchem die Leser in das Geschehen einsteigen, um das Schicksal des Helden in chronologischer Reihenfolge nachzuvollziehen. Der Erzähler hat uns vielmehr irregeführt: Goggels Reise zu Herrn von Hahnentritt ist eine imaginäre. Da der Spiegel letztendlich ganz bleibt, muß der Eintritt Goggels in die imaginäre Welt vor dem Zerschlagen des Spiegels erfolgt sein. In dem Augenblick, als Goggel bei seiner Selbstbetrachtung über das rein optische Phänomen der Spiegelung hinausgeht und ihm in einem Moment der Selbsterkenntnis das Dilemma seiner Lage - d.h. seine Rolle und Rollendistanz oder Duplizität[12] bewußt wird, wird auf der Spiegelfläche einer Selbst-Reflexion im doppelten Sinn Platz eingeräumt. Mit der ersten imaginären Handlung, dem Zerschlagen des Spiegels, durchbricht er die Grenzen seiner Rolle und verschafft sich Eintritt in eine imaginäre Welt, aus der er 85 Seiten später – wieder bzw. noch immer in einer Spiegelszene – hinauskatapultiert wird.

Innerhalb der äußeren Handlung liegen zwischen diesen Spiegelszenen nur wenige Augenblicke – die Suppe steht ja noch immer am Feuer – das zeitliche Ausmaß der Spiegelung ist also äußerst gering. Die imaginäre Handlung ist stark gerafft, umfaßt sie doch auf 85 Seiten einen Zeitraum von mehreren Jahren,[13] die allesamt in diesem Augenblick der äußeren Handlung Platz finden. Im kleinen tut sich demnach ein großer Zeitraum auf, der als unbegrenzt bezeichnet werden kann. Während sich äußerlich kaum etwas bewegt, schreitet die Zeit und mit ihr die Handlung in der gespiegelten Geschichte in großen Zügen voran; bzw. läuft im Spiegel ein halbes Leben in einem Augenblick ab, der aufgrund der linearen Struktur des Erzählens einen weitaus größeren Erzählraum einnehmen muß, als es der Dauer des Spiegelerlebnisses eigentlich entspräche.[14]

Ähnlich verhält es sich mit dem Raum: Der beobachtende Goggel rührt sich nicht von der Stelle, wie gebannt verharrt er vor der Spiegelfläche in seinem Zimmer. Dem imaginierten Goggel scheint hingegen die ganze Welt offen zu stehen - zumindest bereist er halb Europa – und je länger er unterwegs ist, desto verschlungener sind seine Wege.[15]

Die Spiegelwelt ist demnach aus dem Zeit-Raum-Kontinuum ausgenommen, eine Deviation vom linearen Handlungsablauf, wie die Ausbuchtung, die Schleife des griechischen Buchstabens Omega, dessen Ausgangspunkte die reale Handlung darstellt.[16]

 

Allegorie des Lesens

Die Spiegelung im „Goggelbuch“ ist als Allegorie des Lesens[17] deutbar: Realisiert man den Text und die darin enthaltene Möglichkeit der Selbstbespiegelung in der Lektüre, so begibt man sich auf reflektierende Distanz, in eine andere Welt, in der die Vorzeichen umkehrbar, Erfahrungswerte und Normen aufhebbar sind und geht daraus verändert wieder hervor. Die optische Verdoppelung der Figur vor dem Spiegel dient der Veranschaulichung des inneren Vorgangs der Multiplikation, worunter Paul de Man mit Baudelaire „diejenige Tätigkeit eines Bewußtseins, wodurch sich ein Mensch von der nichtmenschlichen Welt differenziert“[18] versteht. Wenn dieser Vorgang laut Baudelaire nur jenen vorbehalten ist, „die, wie die Künstler oder die Philosophen, mit der Sprache arbeiten“[19], so muß der Diener Goggel dadurch der Reihe seinesgleichen enthoben werden. Die Entwicklung Goggels nimmt denn ihren Anfang vor dem Spiegel und endet in einem Text.

 

Der Leser

Am Beginn von Goggels Entwicklung steht seine Spaltung in einen wahrnehmenden und einen wahrgenommenen Teil. Goggel wird dabei zum Leser seiner selbst. Das bisher als Einheit präsentierte Subjekt tritt zu sich selbst in eine Subjekt-Objekt-Beziehung, was auch die Lesesituation verändert: Albert Drach baut zu Beginn des Textes ein fiktives Gerüst vermeintlich historischer Fakten auf, unternimmt diesen Objektivierungsversuch jedoch entgegen den Kommentaren des Erzählers. Dieser übernimmt schließlich die Präsentation des Dokuments, d.i. von Goggels Geschichte, führt den Leser durch Verminderung der erzählerischen Distanz zu Goggel langsam von der Außenperspektive des noch einheitlichen Subjekts Goggel zur Einsicht in und schließlich Identifikation mit dem Beobachter Goggel und läßt ihn damit allein, sodaß am Ende der Spiegelerfahrung der Leser so verblüfft ist, wie es eigentlich Goggel selbst sein sollte, als er bemerkt, daß alles nur imaginiert gewesen ist. Die Spiegellektüre ist zu Ende: Wie Goggel wird auch der Leser aus einer Vorstellungswelt entlassen, die bei erstem auf dessen dissoziativer Erfahrung, bei zweitem auf sprachlichem Erleben beruht.[20] Zurück in der „Realität“ des Textes, verschmilzt Goggels aufgefächertes Spiegelbild wieder zum Bild eines sich als - wenn auch gebrochene - Einheit präsentierenden Subjekts; und der Leser findet sich analog in seiner Welt wieder. Der Autor treibt ein Spiel mit dem Leser, indem er die Rolle des Lesers im Text multipliziert. Wir lesen, wie der Erzähler liest, wie die Nachfahren Goggels dessen Selbst-Lektüre lesen und dabei einiges hineinlesen.

Goggel nimmt die Welt via Spiegel – also vermittelt – wahr; was ihm die Spiegellektüre an direkter Sinneserfahrung verwehrt, das wird ihm im selben Augenblick durch das Spiegelerlebnis ersetzt. Dieses Phänomen ist dem Lesen inhärent: Die (im Text) gespiegelte Welt kann realer als die Alltagswelt erscheinen.[21] Oder, wie Albert Drach es in dem unveröffentlichten Typoskript „Grundstoffe 2“ ausdrückt: „Aufs Ungewisse hinaus und mit keiner anderen Absicht als mit der nach dem Sinn, kann einer innen finden, was es draußen nicht gibt.“[22] Durch die alleinige Fokussierung des Spiegelgoggels wird das Draußen und damit der wahrnehmende Teil Goggels vollkommen ausgeblendet. Die im Zentrum des Buches stehende Spiegelgeschichte scheint in einen mehrfachen Rahmen gebettet, der dem durch unterschiedliche Brechung unscharf erscheinenden Rahmen geschliffener Spiegel gleicht, aus dem das eigentliche Spiegelbild umso klarer hervortritt. Bis auf die Spiegelszene wird jedoch keiner der Rahmen am Ende des Textes wieder aufgenommen und geschlossen, was sich wiederum auf den Leser auswirkt: Dem Leser ist damit die Möglichkeit genommen, sich auf einfachem Weg von der Perspektive des Protagonisten zu distanzieren; es bleibt nun ihm überlassen, die noch offenen Rahmen selbst – aus eigener Anstrengung – zu schließen und die Auswirkung der Lektüre auf Goggels Nachfahren bis hin zu seinem letzten Nachfahren, den wir aufgrund des von ihm angestrebten Ahnennachweises in der Zeit des Nationalsozialismus ansiedeln können, nachzuvollziehen. Alle dem Text eingeschriebenen Leserrollen münden hier ein.

Das „Goggelbuch“ umfaßt die tragische Geschichte eines um jeden Preis versuchten Aufstiegs, der immer nur gegenteilige Wirkung zeitigt. Moralisiert Goggel, wird er bestraft, lügt und betrügt er, wird er belohnt.[23] Alles ist spiegelverkehrt: je höher das Ziel, desto tiefer der Fall. Während die Selbst- Bespiegelung einen unbewußten Akt darstellt, erfährt sie durch Goggels nachträgliche Erkenntnis ihres imaginären Charakters eine Umdeutung zur originären Erfahrung der Lektüre, durch die er zum selbstbewußten, reflektierenden Individuum werden kann. Ein optisches Phänomen wird hier in Worte aufgelöst, das Spiegelbild beschrieben, Darstellung durch Schrift ersetzt. Der Text wird zum Textspiegel, was Marcel Proust zum Charakteristikum eines jeden Textes erhebt: „In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, eigentlich ein Leser seiner selbst.“[24]

 

Der Autor

Als Goggel die Selbst-Lektüre beendet, findet er sich „Grimassen schneidend, wieder vor seinem Spiegel“ (93). Dies deutet freilich auf den dissoziativen Charakter seines Zustandes hin; er scheint die Kontrolle über sich verloren zu haben: Die Eigendynamik des wahrgenommenen Goggels wird dem wahrnehmenden Goggel in diesem Moment erst bewußt. In der Folge macht er den Schritt vom passiv wahrnehmenden Leser zum aktiven Rezipienten, und weiter zum Erzähler seiner eigenen Geschichte, zum Autor.[25] Er ist einer der Substitute des Autors,[26] seine Schrift wird wiederum von den anderen Substituten, seinen Nachfahren, überarbeitet und tradiert, bis sie in die Hände des Erzählers gelangt.

Das „Goggelbuch“ stellt also einen Text mit ebenso vielen impliziten Lesern wie Autoren dar, wobei deren Widerspiegelung in Goggel zusammenläuft, der eine wahre Multiplikation erfährt: Er selbst ist das Objekt seiner Lektüre, die wiederum zu seinem Schreiben führt. Damit scheint eine unendliche Selbstreflexion initiiert zu sein, die schon in der Un-Eindeutigkeit des Titels zum Ausdruck gebracht wird: Der Titel „Goggelbuch“ impliziert das Buch über Goggel, von Goggel und im Besitze Goggels.

 

Der Text

Der Spiegel als Text, der Text als Spiegel, wie er uns im „Goggelbuch“ entgegentritt, weist gemeinsam mit den obigen Ausführungen über den multiplizierten Leser und Autor Merkmale jenes Vehikels auf, das Lucien Dällenbach in seinem Buch „The Mirror in the Text“[27] von André Gide[28] ausgehend „mise en abyme“ nennt. Dieser aus der Heraldik stammende Begriff bezeichnet ursprünglich das Bild eines Schilds auf einem Schild, das in seinem Zentrum ein Abbild seiner selbst trägt. Er wird von André Gide auf die Literatur übertragen, um die Selbstreflexion eines Werks auszudrücken. Im „mise en abyme“ werden Bedeutung und Form des Werkes akzentuiert und der Text (zirkular) strukturiert. Häufig wird dies auch mit der Metapher des Spiegels bezeichnet. Albert Drach nimmt diese Metapher wörtlich: Der Gegenstand des Spiegels verdeutlicht und symbolisiert zugleich die Übergänge zwischen dem Text und dem Text im Text, dem „mise en abyme“. Nicht nur darin mag sich die Komplexität und Dichte dieses Textes zeigen und seine irritierende Wirkung erklären.

Halten wir uns noch einmal unsere spezielle Lektüresituation vor Augen: wir Leser halten ein Buch in der Hand - das „Goggelbuch“ -‚ in dem von einem Mann erzählt wird, der ein Buch gefunden hat, in dem ein Mann von sich erzählt - nämlich daß er nichts tut, als vor einem Spiegel zu stehen in dem er sich selbst in unterschiedlichen Situationen sieht, die er ausführlich einspielt, um dann wieder zur Ausgangssituation zurückzukehren. Fassen wir die Spiegelgeschichte des „Goggelbuchs“ als „mise en abyme“, so läßt sie sich in ihrer „wörtlichen“ Bedeutung grundsätzlich auf drei Arten lesen, je nachdem ob das Geschehen prospektiv vom Anfang der Spiegelszene her oder retrospektiv von deren Ende her oder als Phänomen der Gleichzeitigkeit gesehen wird. Diese drei Sichtweisen, von denen jede einzelne im Text angelegt zu sein scheint, korrespondieren mit Begriffen aus der antiken Hermeneutik:[29]

Erstens läßt sich die Geschichte als eine, die geschehen könnte, als „argumentum“, verstehen: Das im Spiegel Gesehene ist eine Zukunfisvision, der durch Zerschlagen des „gegenwärtigen Spiegels“ (10) Platz eingeräumt wird. Ihr im ansteigenden Maße alptraumhafter Verlauf schreckt Goggel jedoch dermaßen ab, daß er sich am Ende gegen diese Möglichkeit entscheidet.

Sie läßt sich zweitens im Sinne der „historia“ als Geschichte, die geschehen ist, deuten: Die gespiegelte Handlung ist die Rückblende in Goggels Vergangenheit, der Spiegel „die sein Leben wiederstrahlende Fläche“[30],die er erst durch Zerschlagen vergeblich zu annullieren versucht, schließlich aber versetzt und damit aus seinem Gesichts- und Gedankenkreis (ver)drängt: „Sorgsam trägt er diesen [Spiegel Anm. A.M.] zum Trödler und löst einen blanken Taler. Da sich nun nirgends mehr seine Vergangenheit zeigt, fühlt er sich frisch und neu wie eine unbefleckte Jungfrau.“ (93-94)

Wie auf einer Spiegelfläche die räumlichen Dimensionen verflachen, aus einem Hinter- ein Nebeneinander wird, so vermittelt das „Goggelbuch“ den Eindruck der Gleichzeitigkeit: Seine ganze Geschichte wird ihm einen Augenblick lang gegenwärtig. Der Autor versucht jene inneren Vorgänge des Protagonisten nachzuholen, die dem Zerschlagen des Spiegels vorangegangen sind. Dieser „Spiegel der Innensicht“ hat somit eine teichoskopische Funktion.

Während die beiden bisher genannten Deutungsmöglichkeiten den Bezug des im Spiegel Geschauten zur äußeren Handlung in zeitlicher Hinsicht betreffen und an das Buch erinnern, das Heinrich von Ofterdingen in der Höhle des Einsiedlers in die Hände fällt und in dem er, ohne auch nur ein Wort zu verstehen, sich selbst und sein vergangenes wie zukünftiges Schicksal erkennt,[31] führt uns die dritte Möglichkeit über die Initialbedeutung hinaus: wenn wir nämlich die Spiegelgeschichte als „fabula“, als eine Geschichte, die erdichtet ist, auffassen. In diesem Fall veranschaulicht der Spiegel eine Vision, das Produkt der Phantasie Goggels, der sich selbst in die unterschiedlichsten Situationen hineindenkt. Die dabei entstehende Geschichte aber regt durch ihre bis ins Absurd-Irreale gesteigerte Unwahrscheinlichkeit wiederum zur allegorischen Deutung an: Goggel verliert sich in der Spiegelwelt, verliert seine Identität an eine unüberblickbare und sich überlappende Reihe von Alter egos, sein körperlich eindeutig abgrenzbares Urbild wird in einer unendlichen Spiegelung aufgesplittert. Wie an anderer Stelle schon gezeigt wurde, findet diese Entgrenzung ihren formalen Ausdruck darin, daß alle herkömmlichen Dimensionen des Raums und der Zeit gesprengt werden. Goggel wird durch sein Spiegelbild mit Teilen seiner Persönlichkeit konfrontiert, die er aufgrund ihrer nicht rollenkonformen Eigenschaften – er usurpiert als Diener die Ansprüche des Herrn, führt einen unmoralischen Lebenswandel usw. – verdrängen muß. In der Spiegelwelt lebt er die abseits des Bewußtseins existierende Schattenseite seiner Persönlichkeit aus, die sich ihm in vielfacher Gestalt immer wieder als Faustische Versuchung darstellt, der er letztendlich widersteht.

Was in linearer Abfolge geschildert wird – und in der linearen Struktur liegt auch die Begrenztheit literarischer Spiegelung – läßt sich genauso gut als an unterschiedlichen Orten, doch zur gleichen Zeit Geschehendes auffassen, was einer unendlichen Spiegelung gleichkommt. Die einzelnen Episoden sind dann als einander überdeckende und reflektierende Spiegelflächen zu sehen, deren Grundsituationen in leicht abgewandelter Form immer wieder auftauchen, sich jedoch in drei Richtungen widerspiegeln: in horizontaler und vertikaler Richtung und in konzentrischer Form:[32]

Als horizontale Spiegelungen gelten die analog verlaufenden Handlungen um Don Juan de Tenorio und Don Juan de Manara, die ein sich teilweise überschneidendes Personeninventar aufweisen und einer symmetrischen Anordnung unterworfen sind: Je tiefer sich Goggel in die Spiegelwelt begibt, desto dichter wird das Netz der Ereignisse und Figuren, in das er sich verstrickt. Die Zahl der Figuren steigt im Laufe seiner Reise an und nimmt im selben Maße zum Ende hin wieder ab. So ergibt sich eine zirkulare Struktur des Textes.[33]

Die Beziehungen zwischen Don Juan und dem ersten Diener, dem ersten Diener und Goggel, Goggel und seinem Hund Wonnemund spiegeln einander auf den verschiedenen Stufen einer sozialen Hierarchie – also in vertikaler Richtung – wider. Symbolisch-leitmotivisch setzen sich die Tritte von oberster Ebene – vom mysteriösen Herrn, mit dem sprechenden Namen von Hahnentritt, vulgo Don Juan, dem satanischen Herrn Goggels – bis hinunter zu Wonnemund, Goggels treuem Hund, fort.[34] Albert Drach kehrt dabei die tradierten Muster um: Don Juans Diener (der namentlich aus einem Stück Molières entwendete Sganarell und der Frauenlisten führende Leporello, der durch Mozarts Oper Berühmtheit erlangte) werden im „Goggelbuch“ nicht einmal ansatzweise moralisch und in dementsprechender, wenn auch leiser Opposition zu ihrem Herrn dargestellt und in dieser Eigenschaft von Goggel noch bei weitem übertroffen. Anders als in den literarischen Vorlagen wird Goggel zwar für seine treuen Dienste – er handelt immer Don Juans Betriebsideologie entsprechend unmoralisch – von seinem Herrn, also intern, belohnt, von außen muß er jedoch für die Taten seines Herrn immer wieder büßen: Sein Spiegelexperiment darf als gescheitert betrachtet werden. Zwischen Herrn und Diener wird hier nicht mehr unterschieden, was uns zur dritten Möglichkeit der Spiegelung bringt: Am Ende des Buches scheint Goggel sein Ziel erreicht zu haben; er trifft Herrn von Hahnentritt, der sich zu erkennen gibt – als Nicht-Identität, als Don Juan in doppelter Ausführung, als dessen Diener und als Faschingsnarr in einer Figur, als Prinzip des Bösen: „[. . .] mit einem Wort, er sei der Teufel.“ (93) Goggel erkennt nun, daß alle und alles – er selbst miteingeschlossen – von diesem kontrolliert wurden, daß allem derselbe Kern zugrunde liegt, wie konzentrischen Kreisen ein Mittelpunkt.[35]

 

Lektüre – Lektion

Am Ende ist der allegorische Zauber vorüber, die beiden Bedeutungsebenen werden wieder zusammengeführt: Die flimmernd übereinanderlappenden Spiegelbilder mit verschwimmendem Rand verschmelzen wieder zu einer festen Kontur, wie ein ins Schwanken geratener Kreisel, dessen Umrisse erst nach dem Stillstand wieder klar ausnehmbar sind. Die alptraumhafte Szenerie des Bösen scheint im Spiegel und gemeinsam mit diesem aus Goggels Leben zu verschwinden. De facto ist jedoch gerade das von Goggel vermeintlich Verdrängte – sei es nun Teil seiner tatsächlichen Vergangenheit oder Zukunft oder ein reines Produkt seiner Phantasie – Gegenstand seiner Aufzeichnungen. Er sublimiert die moralische Aufarbeitung im literarischen Bereich. So scheint aus einem einfachen Diener letztendlich doch noch ein reflektierendes Individuum geworden zu sein: Obwohl Goggel in der Spiegelgeschichte in zunehmendem Maße als reflektierender Mensch dargestellt wird, so stellt er doch immer wieder seine Unreife unter Beweis, indem er – und hier handelt er immerhin bewusst – sich jeder Verantwortung entzieht und jede Schuldzuweisung sofort auf andere abwälzt beziehungsweise Schuldgefühle im Keime erstickt. Schließlich ist er zu einem Leser seiner selbst geworden, der seinen Weg verschriftlicht und insofern auch reflektiert. Diesmal muß er sein unerträgliches Spiegelbild nicht mehr zerstören, sondern führt es in eine schriftliche Form über: Aus Destruktion ist Produktion geworden. Als nunmehr gebrochenes Subjekt erkennt er den „Schein als Schein“[36] und verarbeitet diese vor dem Spiegel stattgefundene Erkenntnis in einem Erzählvorgang, der – und ich beziehe mich hier noch einmal auf Paul de Man (Proust) – „als ein Spiel des Zerbrechens und Wiedervereinens“[37] das Selbst vor der Leere retten kann.[38]

Von den Höhen des Ehrgeizes, den Verlockungen der zu hoch hängenden Früchte, ist Goggel auf den Boden der Realität zurückgefallen, der sich immerhin durch Festigkeit auszeichnet. Das Welttheater wird geschlossen – aus Sicherheitsgründen – es senkt sich der Vorhang vor das Horrorszenario der versenkbaren Bühnenteile und doppelten Böden, und zurück bleibt ein Goggel, der sich nach der Fall-Studie seiner selbst seiner Grenzen bewußt ist. Im Fall eines Menschen sieht Paul de Man immer auch einen Fortschritt in der Selbsterkenntnis: „Der gefallene Mensch ist weiser als der Narr, der herumgeht und die im Boden aufgebrochenen Verwerfungen nicht beachtet, die darauf lauern, ihn zu Fall zu bringen.“[39]

Welche Absicht könnte hinter alledem stecken? Es bei der Allegorie als eine des Lesens allein bewenden zu lassen scheint der Gesamttextur nicht gerecht zu werden. Die oben erläuterten unterschiedlichen Lesarten der Goggelschen Spiegelung sollen nun miteinander verknüpft werden.

Die Zeit- und Raumlosigkeit der Spiegelerfahrung sowie die Multiplikationen des Autors und des Lesers, die allesamt in der Figur Goggels zusammenlaufen, ermöglichen eine unbehinderte Vor- und Rückwärtsbewegung innerhalb der Zeit und des Raumes, eine schier unendliche Vor- und Rückbezüglichkeit: Goggel ist de facto noch einmal mit heiler Haut davongekommen, dies scheint ihm letztendlich auch bewußt zu sein, will er doch seine Vision am liebsten ungeschehen machen. So unangenehm dünkt sie ihn, daß er alles an sie Erinnernde aus seinem Gesichts- und Gedankenkreis verbannt. Als sich nun sein Hund Wonnemund aus seinem Versteck unter dem Herd hervorwagt, sich als Beweis und Teil seiner Vergangenheit[40] –„verstört und unbewältigt“(94) – , als sein ewiges Opfer, bemerkbar macht, kommt er zwar nicht mehr auf die Idee, ihn wie sonst üblich zu treten, doch möchte er sich damit auch nicht auseinandersetzen und schenkt ihm deshalb keine Beachtung. Für Goggel ist mit dem Entfernen des Spiegels seine Vergangenheit ausgelöscht, er fühlt sich nach diesem Akt unschuldig: „frisch und neu wie eine unbefleckte Jungfrau“(94). Hier wird – und die Nähe der Wörter „Vergangenheit“ und „unbewältigt“ mögen als Indizien genügen[41] – die politische Komponente dieses Textes betont: Goggels Wunsch nach Verdrängung der Vergangenheit wird seinem letzten Nachfahren selbst noch einmal zu eigen werden, das weiß der heutige Leser: Goggel hat durch seine als Spiegelung zum Ausdruck gekommene Vision nicht nur seine Individuation und damit Eigenverantwortlichkeit erfahren, ihm ist das moralisch Verwerfliche, das Satanische seines Tuns erst im Nachhinein zu Bewußtsein gekommen, aus dem er es sofort wieder verdrängt: Ist sein erster Entschluß vor dem Spiegel, nämlich sich gegen die Beherrschung von außen auflehnen zu wollen, noch als Teil seiner Selbstwerdung gutzuheißen, so ist bereits das Mittel zu diesem Zwecke, nämlich die Macht des vermeintlich guten Herren schamlos zum eigenen Vorteil zu nützen, verwerflich. In der Folge stellt sich heraus, daß Goggel auf diesem Weg nie die Rolle des Dieners wird abschütteln können, vielmehr bleibt er ein ewig Getriebener, ohne sich dessen bewußt zu sein. Er handelt im satanischen Banne - oder vielmehr in seinem Sinne; egal, was er tut, er spielt in die Hände des Barons von Hahnentritt, der sich am Ende als Satan zu erkennen gibt und alle Fäden in der Hand zu halten, den Hergang der Dinge zu kontrollieren scheint – wie der allmächtige Gott in unmoralischer Mission oder wie ein Autor, der mit seinen Figuren böses Spiel treibt. Dazu gute Miene zu machen ist verwerfliches Dulden unmenschlicher Vorgänge. Die Chance der Selbstbefreiung hat Goggel zwar wahrgenommen, doch kläglichst vergeben: Die Subjektwerdung des deutschen Dieners bedeutet, daß er zum Gehilfen des Terrors wird,[42] weil er sein Dienertum nicht aufgeben und die Eigenverantwortung nicht auf sich nehmen will.

Was Goggel im Spiegel erfährt, erinnert nicht zufällig an die Kritik am Verhalten der „deutschen Diener“ während des Nationalsozialismus, vor allem jener aus dem österreichischen Teil des Dritten Reichs. Die Assoziation liegt durch den angestrebten Ariernachweis von Goggels Nachfahren nahe. Goggel ist der brave deutsche Diener, den der Dank „Herrn H.s“ für seine Mithilfe zuerst ehrt, der dann jedoch abstreitet, seinen Dienst je freiwillig angetreten zu haben, und schließlich befürchtet, im Nachhinein für seine Untaten, die er zwar im Sinne H.s, jedoch aus Eigeninitiative unternommen hat, bezahlen zu müssen.[43]

In Selbstverantwortung Handlanger des Teufels zu sein, ohne den Teufel zu erkennen, so scheint Albert Drach Österreichs nationalsozialistische Vergangenheit zu sehen, die er in seinem Text im Text, „mise en abyme“, zum Wappenschild Österreichs abstempelt.

Hätten Goggels Nachfahren die Lektüre des „Goggelbuchs“ ernst genug genommen, das Allegorische des Lesens erkannt, wäre der Verlauf der Geschichte ein anderer gewesen. Albert Drach scheint uns zu warnen: Der Text als Spiegel darf nicht dasselbe Schicksal wie Goggels Spiegel erfahren, er soll uns durch die Unabgeschlossenheit der Erzählsituation zur Auseinandersetzung mit dessen Inhalt zwingen. Wenn der Mensch schon nichts aus der Geschichte zu lernen versteht, so vielleicht aus der Spiegelung der Geschichte in der Literatur.

 


[1] Manuskript der „Kleinen Protokolle“ (Österreichisches Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, im folgenden abgekürzt als OLA), das ursprünglich die „Kleinen Protokolle“ und „Das Goggelbuch“ enthalten sollte, de facto jedoch nur die Titel der unter diesem Namen subsumierten Texte mit jeweils einem kurzen Abstract, eine Niederschrift des „Goggelbuch“ und einige „Versgefüge“ umfaßt.
[2] Manuskript, OLA, ursprüngliches Motto: „Das Goggelbuch beschreibt das Werden eines deutschen Dieners bevor seinem Einlangen bei Herrn von Hahnentritt bis nach dem Verlust seiner späteren Dienstgeber in Spanien, welchselbige später unter dem gemeinsamen Namen Don Juan [sich?] unrühmlich bekannt wurden.“
[3] Albert Drach: Das Goggelbuch. Wien: Verlag Der Apfel 1993, S.7. Nachfolgend zitiert als Goggelbuch bzw. im Fließtext durch Angabe der Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
[4] In der handschriftlichen Fassung wird diese Behauptung vom Erzähler als ‚.fehlgehend“ abgetan. Vgl. Manuskript, ÖLA.
[5] Manuskript, ÖLA.
[6] Vgl. Thomas Luckrnann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz. In: Poetik und Hermeneutik. Bd.8. Identität. 1976, S. 293—313, hier S. 294: ‚Aber bis ins Hochmittelalter sind es auch im Abendland nur vereinzelte religiöse Menschen, Dichter, Philosophen, zumeist also Randfiguren der Gesellschaft gewesen, die ihr eigenes Ich als reflexionsbedürftig oder gar als reflexionswürdig angesehen haben. [...] persönliche Identität wurde sozial hergestellt.“ Nachfolgend zitiert als: Luckmann.
[7] Vgl. Thomas Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 21-71, nachfolgend zitiert als: Kleinspehn.
[8] Dies ist im Manuskript besonders deutlich formuliert: „Davon abgesehen [...] beginnt der Erzähler Goggel seine Geschichte selber mit einer Eigenbespiegelung. obwohl er sich als Deutscher bekennt.“
[9] „Über letzteren [seinen Herrn; Anm. AM.] denkt er gleichfalls nach, und zwar wie folgt: fein wie ein Fruchtbaum, der bei sanftem Schütteln gute Zehrung fallen läßt; man dürfe sein Geschäft aber nicht grob machen, andernfalls falle krachend ein Ast, und wehe dem, der dann unten stehe.“ (11)
[10] Vgl. Kleinspehn, S. 71.
[11] Manuskript, ÖLA.
[12] Vgl. Luckrnann, S. 310.
[13] Ursprünglich war Goggels Reise zu seinem Herrn für nur sieben Tage geplant.
[14] Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 101, nachfolgend zitiert als: Paul de Man: Allegorien des Lesens: „Die Diachronie der Passage besteht, sobald sich die Erzählung von einem Zentrum zur Peripherie hinbewegt, in der räumlichen Darstellung einer differentiellen, aber komplementären Gliederung eines einzigen Augenblicks. […] ‚Augenblick‘ und ‚Erzählen‘ wären komplementär und symmetrisch, Spiegelreflexionen voneinander, die ohne Einbuße ausgetauscht werden könnten. Durch einen Akt der Erinnerung oder der Vorwegnahme kann das Erzählen die ganze Erfahrung des Augenblicks zurückgewinnen.“
[15] In einigen Szenen scheinen Zeit und Raum als Größen überhaupt aufgehoben, was den fantastisch anmutenden Inhalt und das Satanische des Geschehens unterstreicht.
[16] Lucien Dällenbach: The Mirror in the Text. Translated by Jeremy Whiteley with Emma Hughes. Cambridge: Polity Press 1989 (Le récit spéculaire: essai sur la mise en abyme. Paris: Editions du Seuil 1977), S. 71-72, nachfolgend zitiert als: Dällenbach: “[…] the time-scale of the narrative makes way for the inserted work of art, which in turn suspends narrative time, thus avoiding the need to reflect its reflexion, or the reflexion ofits reflexion, and so on ad infinitum.“
[17] Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens.
[18] Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit. In: P.d.M.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 83-l 30, hier: S.110, nachfolgend zitiert als: Paul de Man: Rhetorik der Zeitlichkeit. Paul de Man bezieht sich in diesem Abschnitt über die Ironie auf Baudelaires Text „De l‘essence du rire“.
[19] A.a.O.
[20] Paul de Man: Rhetorik der Zeitlichkeit, S.111: „Die reflexive Disjunktion tritt nicht nur mittels der Sprache in ihr Recht als privilegierte Kategorie, sie befördert das Ich auch aus der empirischen Welt in eine aus Sprache gebildete und aus Sprache bestehende Welt – eine Sprache, die das Ich in der Welt zwar mitsamt den anderen Entitäten vorfindet, die aber insofern einzigartig ist, als sie die einzige Entität darstellt, mit deren Hilfe es sich von der Welt unterscheiden kann.“
[21] Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. S. 72-75.
[22] Unveröffentlichtes Typoskript, ÖLA.
[23] Vgl. etwa Goggelbuch, S. 80.
[24] Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übersetzt von Eva Rechel-Mertens. Bd. 3. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1953-62, S. 91 1.
[25] Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens: „Der gedankliche Prozeß des Lesens dehnt die Funktion des Bewußtseins über die eines bloß passiven Wahrnehmens aus; es muß ein größeres Ausmaß erlangen und zur Tätigkeit werden.“
[26] Vgl. Dällenbach, S. 52-53.
[27] Vgl. im folgenden: Dällenbach, S. 8-9.
[28] Andre Gide: Journal 1889-1939. Paris: Gallimard. P1iade 1948. S. 41. zitiert nach Dällenbach.
[29] Es ist dies die Unterscheidung einer Textbedeutung in eine Geschichte, die geschehen könnte (argumentum), eine Geschichte, die geschehen ist ( historia), oder eine Geschichte, die erdichtet ist (fabula).
[30] Manuskript, OLA. In dem Typoskript „B“ wird der Spiegel als „die sein Wesen widerstrahlende Fläche“ bezeichnet. Vgl. Typoskript, OLA. Diese Änderungen zeigen, daß der Autor bei der Überarbeitung des Textes der Spiegelszene besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben dürfte.
[31] Vgl. Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. v. Paul Kluckholm u. Richard Samuel. Bd.1. Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 264-265.
[32] Eine andere Möglichkeit der Unterteilung wäre nach Dällenbach: 1. die einfache Duplikation – Goggels Spaltung in einen wahrnehmenden und in einen wahrgenommenen Teil; 2. die infinite Duplikation – Goggels Widerspiegelung in Don Juan, Sganarell und Leporello, den Nachfahren und den Lesern; 3. die aporetisch/paradoxe Spiegelung – die Rätselhaftigkeit von Goggels Spiegelerlebnis.
[33] Goggel bleibt am Ende seiner Reise erst mit seiner ersten „Eroberung“, der am Ende wieder verjüngten Anna, und ihrem gemeinsamen Kind, schließlich jedoch nur mit dem Hund allein zurück.
[34] Explizit wird diese Trittfortsetzung gleich zu Beginn des Textes erwähnt: „So hat dieser [Goggel; Anm. A.M.] einen [Hund] bei sich, der noch niedriger ist als er. Der muß wohl die Prügel einstecken, die sein Herr in dienender Eigenschaft einhebt und in herrschender weitergibt.“ (12)
[35] Diese Überschneidung der Identitäten kommt auch namentlich zum Ausdruck: Goggel dient dem Herrn von Hahnentritt, der ihn in der Verkleidung des Faschingsnarren für den Herrn von Hennenhintern hält. Beide Male wird Goggel allein schon durch seinen Namen zum bevorzugten Ziel dieser Hahnentritte. Goggels Vor- und Zuname setzt sich in der Reihe seiner Vorfahren fort, wobei im Laufe der Zeit aus Xaver Johann Goggel die wohl Wiener Variante Klaus Xaver Johann Guckelhupf wird.
[36] Vgl. Paul de Man: Allegorien des Lesens. S. 157: Paul de Man zitiert hier im Zusammenhang mit dem Wahrheitswert der Literatur aus Friedrich Nietzsches „Philosophenbuch“: „Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr.“
[37] Paul de Man: Allegorien des Lesens, S. 102.
[38] Vgl. Andre Fischer: „Aus der Geschichte ist noch keiner gimpflich herausgekommen“. Der Fall Albert Drach. In: Bogen 23 (1988): „Drach schreibt nach seiner fast vollständigen Erblindung auch heute noch, weil er nur durch Schreiben sich seiner selbst vergewissern kann.“ Er behauptet, daß „er keine dem Buch vorausliegende Welt widerspiegeln kann: ‚Fiktion sehe ich als eine Form von Realität.“
[39] Paul de Man: Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 111.
[40] So wenig eindeutig Goggels Spiegelerlebnis aufgrund der widersprüchlichen Aussagen im Text grundsätzlich auf die Zukunft oder Vergangenheit bezogen werden kann, so scheint am Ende des Textes der Autor selbst die Deutung der Spiegelgeschichte als „historia“ zu forcieren. Vgl. Goggelbuch, S.93-94: „Da sich nun nirgends mehr seine Vergangenheit zeigt [...].“
[41] Diese Anspielung auf die mittlerweile viel diskutierte unbewältigte (Nazi-)Vergangenheit Österreichs ist in zweierlei Hinsicht interessant: Einerseits ist sie für die Rekonstruktion der Textgenese von Bedeutung. Die Entstehungszeit des „Goggelbuchs“ ist in den Werklisten des Autors unterschiedlich – nämlich mit 1933, 1940 bzw. 1942 und 1944 – angegeben; 1945 scheint der Text überarbeitet worden zu sein (vgl. Werklisten, Typoskripte, ÖLA). Da im Manuskript und in den Typoskripten diese Anspielung fehlt, muß sie erst bei einer viel späteren Überarbeitung, und zwar nach Angaben von Eva Schobel unmittelbar vor der ersten Publikation im Zuge der Werkausgabe im Verlag Langen-Müller 1965, eingefügt worden sein. Zum zweiten zeigt diese anscheinend also zu Beginn der sechziger Jahre entstandene Ergänzung, daß der Autor hier das Problem der Rolle Osterreichs beim Anschluß an das Dritte Reich literarisch verarbeitet: Goggel empfindet keine persönliche Schuld, was der Situation im Nachkriegsösterreich entspricht, das sich gerne zum ersten Opfer Nazi-Deutschlands stilisierte. Dies wird durch die Stimme des Erzählers konterkariert, der den Hund Wonnemund und damit Goggels Vergangenheit als „unbewältigt“ bezeichnet. Es wären weitere eingehende Vergleiche der Textstufen des „Goggelbuchs“ vonnöten, um festzustellen, inwieweit Albert Drach die Frage nach der Schuld im Dritten Reich schon in den frühen Fassungen thematisiert oder erst in den sechziger Jahren einarbeitet, wodurch das „Goggelbuch“ in den Kontext der Romane „Wolfshaut“ (1960) von Hans Lebert und „Fasching“ (1967) von Gerhard Fritsch rücken würde.
[42] Die Varianten seiner Mittäterschaft zeigen seine Alter egos im Text.
[43] „Als aber die Mahlzeit beendet und das Eßzeug abgetragen ist, beglückwünscht der von Hahnentritt den Diener Goggel für treuen Dienst. Goggel nimmt zwar den Glückwunsch zugegen, doch ist ihm nicht geheuer, hat er doch seines Wissens nie den Dienst angetreten und insgeheim befürchtet, man werde das Angeld von ihm zurückverlangen. Doch der Baron meint, schon beim Spiegel daheim habe Goggels Dienst begonnen. Er sei sodann auf der Fahrt beständig fortgesetzt worden. Er, Goggel, habe ihm das Gefährte samt Fuhrleuten zugesteuert [...]. Des weiteeren [sic] habe sich Goggel beim Betrügen des Bürgermeisters ausgezeichnet und bei seinen Gemeinheiten an den Wirtstöchtem [...J.“ (91) Vgl. S. 9 1-93.