Wendelin Schmidt-Dengler

Schreiben durch Umschreiben

Die Bewunderung für Drachs Werk nimmt ihren Ausgang allemal bei der Sprache; die Themen, ihre skurrile Durchführung, die bizarren Anekdoten – so sehr sie die Leser zu fesseln vermögen, sie wären nichts, gäbe es da nicht eine Sprache, in deren Fußangeln sich der dahineilende Leser verfängt. Sie mit dem Deutsch des Juristen in Verbindung zu bringen, ist so abwegig nicht, aber es erklärt keinesfalls, wieso gerade diese Texte uns so in ihren Bann zu schlagen vermögen, einen Bann, der nicht immer angenehm ist und dem man sich entziehen möchte, aber nicht einfach entziehen kann. Zudem halte ich es nicht für sinnvoll, Drachs Sprache mit der des ja nicht unbedingten geliebten Berufes zu identifizieren: Dadurch würde ja wahrscheinlich nur ein Teil dieser Qualität erst beschreibbar. 

Zum anderen ist zu beklagen, daß die Erforschung des Stils im allgemeinen nach bemerkenswerten Ansätzen in der Zeit, da die werkimmanente Interpretation dominierte und in der Folge auch der russische Formalismus in Europa Spuren hinterließ, derzeit kaum zu den Vorlieben der Literaturwissenschaft gehört. Noch immer scheinen Stilistik und Rhetorik etwas endgültig Überwundenes darzustellen, und in der Tat ist es schwer, von der Stilistik die Brücke zu den literarischen und zu den poetischen Produkten zu schlagen. Man traut sich kaum über die Lyrik hinaus, und für die Prosa, je umfänglicher sie sich anbietet, fehlen uns die Kategorien für die Beschreibung. Weder Linguisten noch Literaturwissenschaftler haben viel für den Brückenschlag in der letzten Zeit unternommen, und die Stilkunde steht da wie eine sitzengebliebene Jungfer und der Stilforscher wie einer, „who knows twenty-six ways of making love but has no girlfriend“.

So möchte ich bei meiner erklärten Zuneigung zu den Texten Drachs nicht aussehen, zugleich bin ich mir der Schwierigkeit bewußt, die sich aus der Anwendung stilistischer und rhetorischer Kategorien ergibt, zumal ja in der jüngeren Vergangenheit eben auch die einzelnen Begriffe, mit deren Hilfe solche analytischen Bemühungen durchzuführen wären, völlig neue Bedeutungszuweisungen erhalten haben, und Metonymie und Metapher – von der Schulrhetorik zugegebenermaßen unzulänglich definiert – längst aus ihrem stilistischen Bedeutungsrahmen gefallen sind und sich philosophischer Dignität erfreuen dürfen. Doch gerade von diesen Ansätzen führt kein bislang brauchbarer Pfad zur Analyse von Prosatexten, und ich bin mir bewußt, daß ich das auch nicht leisten kann, aber ich möchte doch auf einige Besonderheiten aufmerksam machen, die sich ganz gut mit eher traditionellen Mitteln beschreiben lassen und vielleicht einen Blick in die Praxis des Erzählers Drach – soferne von Erzählen die Rede sein kann – öffnen. Zunächst scheint es mir sinnvoll, mich eher auf kleinere Texteinheiten zu konzentrieren, und ich kann Ihnen daher nicht viel mehr bieten als ein paar auf den ersten Blick unzusammenhängende Beobachtungen zur Unsentimentalen Reise, die vor allem in ihren Ausgang bei ganz trivialen Feststellungen nehmen sollen. 

Ich beginne beim Beginn, der geradezu ein klassischer moderner Romananfang ist – und zwar durch die Spitzenstellung der Negation: 

Die Vorhänge sind dicht zugezogen. Nach einem Ruck bin ich in Bewegung, ohne mich zu rühren. Sie tragen mich maschinell. Ich bin in voller Fahrt. Wohin es geht, weiß ich nicht. Ich strebe nirgends hin, liege auch. Niemand hat mich um das Fahrziel befragt. Ich erinnere mich nicht, eine Fahrkarte gelöst zu haben. (7)

Die Isolation des Ich wird im ersten Schatz scharf durch die geschlossenen Vorhänge akzentuiert. Jede positive Behauptung wird in der Folge durch eine negative Behauptung entweder relativiert oder aufgehoben. Die Vorwärtsbewegung im Text ist eine ständige Bewegung von Behauptung und Widerruf, von Ja und Nein: vergleichbar der Zugfahrt, die eine Fahrt mit Widerrufen, mit Hindernissen ist. Dieses Ich darf nicht das Ich sein, das es ist, es hat sich selbst zurückzunehmen, aufzuheben. Man lese diesen Eingang des Romans aufmerksam durch, auch die weiteren Zeilen – der Ich-Erzähler scheint gerade in der Lust der Negation zu schwelgen. Diese Negation hat oft nur die Funktion der Litotes, also der Verneinung, um eine positive Behauptung zu unterstreichen; z. B.: „Sein Nachbar […] ist nicht wesentlich älter […].“ (7) Diese Litotes wird zu einer tragenden Stilfigur für das Erzählen Drachs überhaupt, ja es scheint, als würde hier ständig jemand eine mögliche Behauptung korrigieren oder gar radikal widerrufen wollen. 

Die modernen Romananfänge sind meist über solchen Negationen aufgebaut. „Ich bin nicht Stiller!“ – dieser berühmte und oft zitierte erste Satz von Frischs Stiller (1954) steht ebenso ganz im Zeichen des Widerrufs. In seiner Kürze und Radikalität macht er Schluß mit allen behäbigen Introduktionen, die das Ich mit Namen und Tätigkeitsbereichen ausgestattet vorführen. Dieser Satz ist zugleich der radikalste des ganzen Romans, an den sich das Ich klammert, um seine Nicht-Identität mit Stiller zu behaupten. An diesem ersten Satz hängt auch der ganze Roman, und der Prozeß des Erzählens scheint aber just darauf angelegt, die Unbedingtheit dieser negativen Behauptung zu zerstören und an ihrer Stelle eine fragwürdige neue Identität Stillers mit sich selbst zu etablieren. Robert Menasse beginnt seinen Roman Sinnliche Gewißheit gleich mit der Negation von drei Erzählanfängen, und zwar von Thomas Mann, Adalbert Stifter und Marcel Proust. 

Aus einer ähnlichen Haltung gewinnt Drach seine dynamischen Energien, und die Figur der Litotes durchzieht nicht nur diesen Text und erzeugt eine Mechanik, die den Leser stets dazu zwingt, selbst in den kleinsten Textpartien immer das Gegenteil mitzudenken. Jede positive Behauptung wird umgehend in ihr Gegenteil verkehrt: „Er zeigt sich als besser rasiert, vielleicht wächst ihm der Bart schlecht.“ (7)

Die Negation, und da im besonderen die Litotes ist eine der milderen Formen uneigentlichen Sprechens, könnte man sagen. Hier wird nicht ein Phänomen direkt angepeilt oder eine Tatsache behauptet, sondern umschrieben. Drachs Texte sind – ich nehme damit meine Hauptthese vorweg – sind aufgebaut auf solchen Umschreibungen, auf Periphrasen: Sein Schreiben ist immer ein Umschreiben, eine These, die ich noch durch weitere Einzelbeobachtungen zu stützen versuche. Ich kann leider nicht immer die einzelnen von mir besprochenen Stellen in ihrem Kontext betrachten, doch lohnt es sich zunächst einmal, diesen Textbewegungen an einigen Beispielen nachzuspüren. „Ich habe mir meine Mitreisenden nicht ausgesucht“, sagt Kucku von sich, und setzt im nächsten Absatz fort: „Jedenfalls ist der Mann, der meinem Kopf gegenüber sitzt, nicht alt.“ (7) Der liegende Kucku hat sich aufgeteilt, er beansprucht drei Plätze, und da sitzt einer seinem Kopf gegenüber. Die Lage Kuckus vertritt geradezu sinnbildhaft die Erzählposition: Erzählt wird nicht aus dem Stehen oder Sitzen oder Gehen, sondern aus dem Liegen: Kucku liegt, und daher kommt seinem Kopf eine besondere Position zu, er erhält ein Gegenüber. Zugleich wird dieser Kopf zu einer pars pro toto: Der Kopf des Erzählers ist ein Ganzes, ihm sitzt dieser Mann gegenüber.

Die Identität der Figuren Drachs wird ebenfalls aufgelöst, und zwar in der ätzenden Sprache. Kein Name ist vor ihm sicher: „Der ältere Herr in der Ecke bei der Tür stellt sich soeben vor. Er ist der Dr. Honigmann. Er spricht seinen Namen so aus, daß man dessen ganze Süßigkeit schmeckt.“ (8) Die Stimme verfolgt Kucku ja durch den ganzen Text hindurch, und es ist wichtig, daß man diese einzelnen Qualifikationen genau im Ohr behält: Es ist ein anderes Ego, ein warnendes Ego, diese honigsüße Stimme.

Ein anderer Mitreisender wird so beschrieben: „Der Mann mit dem schwammigen Gesicht redet in sichtlich gerührtem Tonfall von sich selbst, sagt auch, daß er ,sozusagen’ gerade geheiratet habe und seine Frau mit einem Kinde schwanger gehe.“ (8) Man muß diese Informationen sehr genau registrieren, denn sie liefern dem Autor das Recht, gleichsam die Figuren „umzubenennen“ – die Gestalten erscheinen gerne metonymisch verkleidet. Dieser Ehemann tritt dann „als der schwammige Ehemann“(9) auf (wohlgemerkt: vorher war nur sein Gesicht „schwammig“), es kommt aber noch dicker. Als Kucku sich aus seiner Ohnmacht erhebt und aufsetzt, heißt es: „Der Vater eines vermutlich nachgeborenen Kindes ist verdutzt.“(10) Man beachte, wie viel an Informationen in diesen einen Satz Drach hinein verpackt hat. Die Menschen, die hier abtransportiert werden, und dies der indirekte Kommentar des Erzählers, sind zum Tode Verurteilte. So heißt es denn auch gleich in der Folge: Der „verhinderte Familienvater“ (12, 13), und dann noch krasser: „Der schwammige Anwärter auf ein postumes Kind wiegt sich in Hoffnungen.“(13)

Was auf den ersten Blick wie eine Verrenkung, ja eine allzugroße Strapaz unseres Stilgefühls, ja eine manieristische Tortur zu sein scheint, das erhält seine Berechtigung angesichts der beklemmenden Situation, in der sich der Erzähler und seine Mitreisenden befinden. Diese Situation wird noch bizarrer dadurch, daß sich Kucku ja als Nicht-Jude ausgibt, wodurch er, wie es wieder mit einer bezeichnenden Metonymie heißt, diese „Solidarität der Todgeweihten“ (12) verletzt. Das Wissen um den sicheren Tod bindet die Reisegefährten unsentimental aneinander. Aus dieser Perspektive erhalten alle Aktionen ihre Bedeutung. 

Doch davon später. Man beachte, wie raffiniert Drach solche Konstellationen erzeugt: Da kommt eine Krankenpflegerin herein: „Sie ist übrigens nicht Französin, sondern, wie sie sagt, Polin. Ihre Stimme hat das Herbsüßliche von Huren, die viel Bier genossen und einen guten Fang gemacht haben.“ (12) Eine gewiß sehr eigenwillige Charakteristik, aber sie stellt sofort einen Kontext mit der Süßigkeit des Herrn Dr. Honigmann her; auch sie wird nicht nur unter der Berufsbezeichnung Krankenpflegerin, sondern auch Hure weitergeführt; der „postume Familienvater“ findet Gefallen an ihr. Es heißt: „Die häubchentragende Hure schenkte ihm einen süßen Blick.“ (13) Man merkt förmlich, wie sich diese beklemmende Süßigkeit im Zugabteil ausbreitet.

Die Szene findet ihren drastischen Höhepunkt in einem Totschlag. Der „elegante Waggonkommandant“, der den Reisenden die Öffnung der Fenster gestattet hatte, wird von zwei Gendarmen angeschleppt und mit Fäusten traktiert: 

Dieser [der Waggonkommandant] spuckt Blut und ein paar Zähne aus. „Ein Glück, daß der Zeitungsverkäufer dich gleich angegeben hat.“ Es ist glücklicherweise immer wer da, der wen angibt. In meine einschlägigen Erinnerungen, die zu überblicken mir nicht Zeit genug bleibt, zischt bereits der Schlag des Brigadiers. Der Kopf des verhinderten Flüchtlings schlägt springend wie ein Ball an die Wagenwand und macht dort Lärm. Das Ergebnis wird zugedeckt weggetragen. (19)

Die Grausamkeit der dargestellten Szene läßt eine nüchterne Stilanalyse als geradezu frivol erscheinen. Drachs Maxime, derzufolge der „Zynismus ein Anwendungsfall von Ironie“ sei, kommt hier zum Tragen. Zunächst haben wir hier eine der wenigen Stellen, in denen der Erzähler sich als einer, der sich erinnert, einbringt. In einem Relativsatz wird die Praxis des Erzählers schlaglichtartig charakterisiert: Er hat nicht die Zeit, seine Erinnerung zu überblicken, wobei unklar bleibt, ob dies den Akt der Niederschrift meint, oder ob die herandrängende Masse der Erinnerungen diesen Überblick verwehrt. Wir erkennen in dieser blutigen Partei eben alle jene Verfahren, die Drach sonst anwendet, vor allem eben auch die Periphrase oder die Metonymie: Der „Waggonkommandant“ erscheint als der „verhinderte Flüchtling“. Das Unerhörte, ja Zynische wird in der Schlußpartie manifest: „Das Ergebnis wird zugedeckt weggetragen.“ Es ist, als ob der Erzähler selbst die Schreckenstat zudecken wollte, indem er über den Toten die Decke breitet. Diese Sprache ist meilenweit von jeder Form der Beschönigung, des Euphemismus entfernt. An dieser Stelle wird die Ironie („der gütige Brigadier“) zur Abwehr des Schrecklichen eingesetzt.

Wenn ich von diesem Stilfiguren wie Ironie, Metonymie, Litotes gesprochen habe, so wird ihre Funktion für die Erzählpraxis Drachs aus diesen wenigen Partien doch deutlich: Das, wovon hier erzählt wird, verträgt keine direkte Darstellung. Was geschrieben werden muß, muß umschrieben werden. Zugleich wird in dieser Umschreibung, in dieser Periphrase auch ein umgreifender erzählerischer Kontext hergestellt, der die einzelnen Figuren nun nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch auf der sprachlichen Ebene (thematisch und rhematisch) miteinander verbindet, es entsteht eine Art Metatext, mit dem sich die erzählende Rede von der Aktion distanziert. 

Die Figuren leben als Metonymien, als Umbenennung für Zustände, so etwa die „Schlächter“ im dritten Teil der Unsentimentalen Reise: Sie sind weniger im Namen präsent als durch das Moment, das die Umbenennung verursacht. Der erzählerische Progreß und die Charakteristik der Figuren beziehen seine Energien eben aus diesem fortwährenden Umbennungsprozeß und nicht aus der Dichte der Aktionen. Wenn die Figuren Namen haben, so werden diese Namen wiederum in Umbenennungen verwandelt, wie etwa im Falle Honigmann, wo die Süßigkeit, die dem Namen abglesen wird, plötzlich zu einem Agens wird.

Ähnlich ergeht es dem „ verhinderten Familienvater“, der sich schließlich vorstellt:

Der Familienvater, der sich jetzt vorstellt, ein Toter dem andern, und Stiglitz heißt, wiewohl er nicht so gut singen dürfte wie der Vogel, wohl aber wie der Dichter gleichen Namens, der auch dann keiner wurde, als seine Frau sich umbrachte, damit er einer werde, unser gefangener Stiglitz also dringt in die Mitte der Sache ein und schildert, wie der verblichene Waggonkommandant sich bei einem ehrsamen bürgerlichen Besitzer einer biederen Miene und sichtbaren Hosenträgern und Glatzenmütze und breiten weiten Hausschuhen einquartierte und wie dann von diesem Biedern die Meldung an die Polizei erging. (20)

Es ist mir hier nicht möglich, im einzelnen darzustellen, wie Drach nun die einzelnen Motive aus diesem Satz im nächsten weiterentwickelt, auf jeden Fall bleibt so gut wie gar nichts ohne Funktion. Entscheidend aber ist, daß hier alles indirekt erfolgt, daß manches per negationem dargetan wird. Stiglitz kann nicht so schön singen wie der Vogel, aber er paßt zu einem mißglückten Dichter, und zwar zu dem nur durch den Opfertod seiner Frau berühmten Heinrich Stiglitz, dessen Frau Henriette sich 1873 erdolchte, um ihrem Gemahl endlich das Thema zu geben, das ihn berühmt zu machen vermöchte. 

Mit den Metonymien erzielt Drach die eigentümliche Wirkung seiner Texte; sie sind die wichtigsten Träger im erzählerischen Prozeß, indem sie in Verein mit Litotes und Periphrase diesen gliedern und so gleichsam das Nacheinander im Zeitlichen und das Nebeneinander im Räumlichen ersetzen oder zur Nebensache werden lassen. Zwar werden in der Unsentimentalen Reise immer wieder Räume beschworen, die die Beengung des Individuums hervorheben, die aber zugleich auch beschädigt sind. Drach zerstört, wo immer es sich anzubieten scheint, das Atmosphärische, indem er die Figuren zu Rollenträgern macht („postumer Vater“) oder das Nacheinander seiner Erzählung dauernd unterbricht, es dem Leser geradezu unmöglich macht, sich in der Chronologie einen sicheren Halt zu verschaffen. Die Brüche sind beachtlich, und so springen wir vom Jahre 1939 in das Jahr 1944, alles mehr oder weniger unversehens. Die Erwähnung der Landung der Alliierten fixiert die Handlung zwar einmal eindeutig in der Chronologie einer bewußtseinsoffiziellen Chronologie, aber diese tritt immer wieder in den Hintergrund – sie ist nicht bedeutend. Freilich kann sich der Erzähler aus dem Raum-Zeitkontinuum nicht hinausstehlen, aber er kann so nachlässig damit umgehen, daß der Leser gezwungen ist, stets seine Korrekturen dort anzubringen. Eine Episode wird durch einen scharfen Schlußstrich beendet.

Am dritten Tag kam Frau Neumann ins Spital, sie hatte einen Selbstmordversuch gemacht, vermutlich mit Gift. „Ich mache keinen Selbstmordversuch“, sagte die blonde Agnes mit den waschblauen Augen. „Ich finde noch was anderes!“ Sie ließ sich wiederholt zum Chef führen, gefiel aber offenbar nicht. (27) 

Zur Anwendung kommt hier ebenfalls ein für Drach typisches Stilmittel – die Aposiopese, die „figura praeteririonis“, das kunstvolle Verschweigen, das den Leser zwingt, die einzelnen Partien zusammenzuleimen. Die unglückliche Agnes meint „offenbar“, mit ihrem Körper ihr Leben zu retten, aber es nutzt nichts – ihr Plan verfängt nicht. 

Die Personen dieser Autobiographie erscheinen als dieselben unter einem anderen Zeichen: Das Bezeichnete ist dasselbe, es wird immer wieder anders bezeichnet – die Bewegung im Text entsteht also durch die Metonymie. Denn nur wenn die Bezeichnung wechselt, wird klar, was es mit diesen Menschen auf sich hat: Daß sie Tote sind, tot zu dem Zeitpunkt, da über sie erzählt wird, und daß von ihnen nicht so erzählt werden kann, als ob sie lebten. Der Akt des Erzählens ist daher nichts anderes als eine Tat des puren Euphemismus. Und nun komme ich auf die Stelle zu sprechen, an der dies besonders deutlich wird. Der Erzähler bekennt sich an dieser Stelle offen zu dem Prinzip der Umschreibung. Unter den Reisenden bricht ein Streit aus, der vom Erzähler auf eigentümliche Weise beendet wird:

Dr. Honigmann läßt dies nicht gelten. Seiner Meinung nach werden alle vergast. Wirft der junge Soldat ein: „Sie haben doch den Seipel, und Kukuck ist kein Jude.“ Krone interviewt mich, warum ich so viel von den anderen einstecke, wo ich doch gegen den Gendarmen und dem Herrn aus dem Gegenzug meinen Mann gestanden habe. Ich sage: „Wenn wir alle außer Gefahr sind, werde ich allen antworten.“ (31)  

Und dann kommt die entscheidende Wendung: 

Das ist natürlich eine Umschreibung [Hervorhebung von mir, W.S.-D.] der Wahrheit, aber ich kann nicht sagen, daß ein Streit zwischen Toten keinen Sinn mehr hat. Man hat mich trotzdem vielleicht verstanden, denn der junge Soldat hat mit dem Herausfordern aufgehört. (31f.)

Der Redende spricht aus dem Wissen, daß alle zum Tode verurteilt sind und daß alle tot sind, eine Einsicht, die etwas später noch radikalisiert wird. Man beachte die Meisterschaft, mit der dieses Wissen um die Vernichtung in eine kleine Szene eingebaut wird:

Der Schuster steht neben mir und leuchtet mit seinem Feuerzeug, damit ich besser sehe.
Dr. Honigmann muß sterben. Stiglitz muß sterben. Stiglitz bleibt postumer Vater eines noch ungeborenen Kindes. Auch die hübsche Münchnerin mit den Zöpfen wird ins Jenseits exportiert [!] werden. Der Fabrikant Krone, SS-Kohn, wie auch der Schuster, der mir leuchtet, daß ich besser sehe, und all die Tänzer der Horah werden sterben. (82)

Das Licht, das der Schuster erzeugt, fällt auf die Toten. Jedes Signal in der Erzählung beleuchtet die Toten. Die Toten müssen in der Erzählung, dank der Kraft des Erzählers, zu Lebenden umgeschrieben werden; es ist nicht die Kraft des Gedächtnisses, sondern die Leistung der Umschreibung, die aus den Toten Lebende macht, zumindest für den Raum, den die Erzählung herstellt. In diesem Raum kann eine Sonderform der Umschreibung in ihre Rechte treten, und zwar der Euphemismus: „Wenn wir alle außer Gefahr sind, werde ich allen antworten.“(31) Der Erzähler usurpiert hier gleichsam die Rolle des Orakels, denn die Wendung „wenn wir alle außer Gefahr sind“ ist zumindest doppeldeutig. 

Der Hochdruck, unter dem das Personal dieses Berichtes agiert, macht, damit die Figuren ihr Dasein erhalten können, Umschreibung nötig: So muß alles umschrieben werden, es muß um den Zustand, um die Tatsachen herum geschrieben werden. Dazu kann man auch die Umschreibung der Abkürzung „I.K.G.“ von der „Israelitischen Kultusgemeinde“ zu „Im Katholischen Glauben“ verstehen. Im Wesen der Abkürzung liegt es ja, daß sie Verschiedenes bezeichnen kann und daß sie, als ein nur unzulängliches Zeichen, denen, die Zeichen verwenden, Möglichkeiten zur dauernden Entstellung gibt, Möglichkeiten, dauernd die Übereinkünfte zu brechen, die wir beim Bezeichnen einzugehen haben. So wird denn durch die ganze Unsentimentale Reise hindurch Kucku gezwungen, seine Identität zu verstellen, zu schwindeln, zu lügen, andere Zeichen zu geben, um anderen eine andere Wirklichkeit vorzuzaubern. Wir erkennen also, wie sich der Text in seiner Gesamtheit aus dem Prinzip der Metonymie herstellt. 

Das wird zur Manie, zur Manier. Was sich wie Kanzleiton anhört, erhält seine Raison d’être nicht aus dieser Untiefe, sondern aus der tief eingesenkten Erfahrung dieses ständig über der Erzählung und den Figuren schwebenden Todesurteils.

Daß es dabei humoristische, ja sarkastische Nebeneffekte geben kann, sei nicht geleugnet. Denn in dieser Sprache der Umbenennung ist nichts mehr sakrosankt, der Euphemismus offenbart sich als eine Schutzformel, die nur in der aussichstlosen Situation in dem Waggon ihre Gültigkeit bewahrt: Denn wenn es Rückblenden gibt, da wird die satirische Funktion dieser Metonymien hervorgeholt. So berichtet der Erzähler von der Frau  eines anderen Flüchtlings, die er in Split auf der Flucht wiedersieht. Mit ihr war er, unmittelbar nach ihrer Hochzeit, unter Duldung des Gatten „allein durch den Wienerwald gezogen“ (74). Doch da die öffentliche Meinung den Gatten zur Unduldsamkeit veranlaßte, „benützten“ sie, wie es heißt, „einen kurzen Spaziergang im Garten zu seiner Hörnung“ (74). Boshafter und eindeutiger könnte der Vorgang nicht umschrieben werden: Der Neologismus Hörnung führt zugleich anschaulich vor Augen, was dem armen Gatten widerfahren mußte. 

Ein Beispiel sei noch angeführt, aus dem die Funktion dieser Umbenennung erhellt, woraus vor allem erhellt, wie eine Redensart – man denke an Nestroy – plötzlich Gestalt annimmt, wie das sprachliche Bild gleichsam aus dem Rahmen, in den es gestellt, hinaus- und die erzählte Handlung hineinwächst. Kucku wird gegen seinen Willen zu einem Dorffest gebracht. Da gibt es unangenehme Begegnungen, unter andrem die: „Dann sehe ich noch die Fratzen der beiden österreichischen Zollsoldaten. Die Fressen werden so lang, daß ich achtgeben muß, nicht auf sie draufzutreten.“ (266)

Das spricht zunächst für sich, zugleich aber ist es ein Indiz dafür, wie sich neben der zu imaginierenden Handlung eine eigene Sprachhandlung entwickelt, wie die Figuren als Bilder und dann als Sprachbilder erscheinen. Das lange Gesicht wird auf drastische Art wörtlich genommen, es muß wörtlich genommen werden. Die Redewendung vom langen Gesicht kann sich hier geradezu dämonisch entfalten.

Das Spiel mit den Wirten und der Sprache ist alles andere denn eine gefällige Rocaille, es ist nicht Ornament, sondern es ist genau das, was das Ornament verhüllen hilft. Diese Sprache weiß, daß nicht in der Direktheit das Direkte steckt, sondern daß es immer Umwege zu gehen gilt, sei es zur Schonung, sei es zur Enthüllung.

Wenn es von Lebleu sich sagt, daß er beschnitten sei, sich aber ja nicht als Jude angesehen wissen möchte, so ist dies genau der Umgang mit einem Zeichen, das zum character indelibilis geworden ist, der aber wieder weggekratzt werden soll. Und etwas später wird deutlich, daß die Aufschrift auf seinem Haus als „maison juive“ eben durchaus gerechtfertigt war, und Darling Withorse hat diesen Zettel befestigt, weil er mit den Deutschen sympathisiert hatte. Nun folgt wieder eine jener souveränen Abkürzungen, jener Aposiopesen, mit denen Drach unsere Energien als Leser fordert: „Sie mußte also um seine intime Beschaffenheit gewußt haben.“ (293) Die Umschreibung bringt das an den Tag, was sie verhüllen oder abschwächen sollte.

Drachs Stil mag irritieren, vor allem die Liebhaber des Direkten. Er mutet an wie ein Ritual; der zeremonienhafte Gestus indes triumphiert über die Roheit des Direkten und will einer Wahrheit dienen, die jenseits der Kolportage und der Chronik zu liegen. „Ein Bericht“ – so lautet die Gattungsbezeichnung für die Unsentimentale Reise. Das, was da zu erzählen ist, würde in einer linearen Erzählung kaum gültig sein, die Chronik würde genau das unterschlagen, was zwischen den einzelnen Zeilen zu stehen hat. Drachs Kunst der Umschreibung ist die Einübung in ein Lebensritual, eine Kunstübung, die durch die longue durée den Bewohnern dieses Landes zur zweiten Natur geworden ist, dieses Landes, von dem Kucku sagt, daß er leider auch von diesem komme. 

 

Zitate aus: Albert Drach: Unsentimentale Reise. Ein Bericht. München: Carl Hanser Verlag 1988.

 

Der bisher unveröffentlichte Vortrag wurde mit freundlicher Genehmigung von Maria Schmidt-Dengler zur Verfügung gestellt.