Auszüge aus

Unsentimentale Reise

Unsentimentale Reise

S. 7 bis S. 19

Die Vorhänge sind dicht zugezogen. Nach einem Ruck bin ich in Bewegung, ohne mich zu rühren. Sie tragen mich maschinell. Ich bin in voller Fahrt. Wohin es geht, weiß ich nicht. Ich strebe nirgends hin, liege auch. Niemand hat mich um das Fahrziel befragt. Ich erinnere mich nicht, eine Fahrkarte gelöst zu haben.

Ich fahre mit Komfort. Der Wagen hat Polsterbelag. Ich liege ziemlich bequem auf drei Sitzen ausgestreckt. Die Mitreisenden unterhalten sich lebhaft miteinander. Sie sind nicht gerade guter Laune. Ich richte meinen Kopf nicht auf. Irgendwo werden wir uns ohnehin trennen. Ich habe meine Mitreisenden nicht ausgesucht.

Jedenfalls ist der Mann, der meinem Kopf gegenüber sitzt, nicht alt. Er könnte an die achtzehn sein, ist schlank und gut gekleidet. Sein Bart scheint jungen Datums. Er trägt ihn vielleicht nur, weil er hierzu genötigt ist. Sein Nachbar, den ich mit noch weniger Anstrengung ausnehme, ist nicht wesentlich älter, aber beleibter als er. Allerdings hat sein Fett eine schwammige Art. Er zeigt sich als besser rasiert, vielleicht wächst ihm der Bart schlecht. Er dürfte den Frauen nicht gefallen, doch trägt er einen Ehering rechts, ist also Mitteleuropäer. Ich kenne keinen von den beiden.

Den dritten Herrn in der Ecke an der Tür glaube ich schon wo getroffen zu haben. Bei welcher Gelegenheit, weiß ich nicht mehr. Er dürfte an die sechzig sein oder sogar darüber. Doch wiegt er sich jugendlich auf seinem Sitz. Er schaut mich an, als ob ich zu ihm gehören würde. Das stimmt aber jedenfalls nicht.

Es ist wohl nicht am Platz, zu fragen, wo ich bin. Im übrigen weiß ich das eine: ich bin in einem Zug. Ich könnte mich höchstens erkundigen, wohin es geht. Doch scheint es beschämend, das einen andern zu fragen. Die Tatsache, daß ich hier auf drei Sitzen liege, deutet allerdings auf ein Privileg, das ich mir genommen habe oder man mir eingeräumt hat. Wahrscheinlich habe ich bis jetzt geschlafen. Aber von wo an? Ich finde auch das Einsteigen in meiner Erinnerung nicht.

Inzwischen nehme ich eine abwartende Haltung ein. Es könnte nützlich sein, den Gesprächen der andern zu folgen. Wahrscheinlich ist es am besten, die Augen wieder zu schließen und sich zu stellen, als ob man nicht vorhanden wäre. Vielleicht erfährt man so auch etwas über sich selbst.

Der junge Mann meinem Kopf gegenüber ist der erste, dessen Worte ich aufnehme. Er spricht Deutsch ohne Akzent und erzählt, daß er im Krieg war. Er rühmt sich dessen nicht. Er meint nur, daß es vielleicht ein Atout sei. Hoffentlich würden sie es berücksichtigen, hoffentlich würden sie ihn auslassen. Es scheint, daß es irgendwohin geht, wo er nicht hinwill.

Der Mann mit dem schwammigen Gesicht redet in sichtlich gerührtem Tonfall von sich selbst, sagt auch, daß er »sozusagen« gerade geheiratet habe und seine Frau mit einem Kinde schwanger gehe. Er meint, daß er besagtes Kind gern gesehen hätte, was eigentlich verständlich ist, obwohl das Wort »sozusagen« keine gesetzmäßige Verbindung mit der Mutter seines Kindes andeutet. Anscheinend befürchtet er trotzdem, den Kontakt mit daheim zu verlieren.

Der ältere Herr in der Ecke bei der Tür stellt sich soeben vor. Er ist der Dr. Honigmann. Er spricht seinen Namen so aus, daß man dessen ganze Süßigkeit schmeckt. Sie kennen nicht den Dr. Honigmann? Keiner kennt ihn, jeder glaubt, ihn kennen zu sollen. Er erzählt, was er gewesen ist, richtiger, wen er gekannt hat. Er ist also aus Österreich oder hat zumindest dort längere Zeit gelebt. Den Seipel hat er auch gekannt und manche Spende gegeben. Das soll jetzt helfen. Jurist ist er auch gewesen, hat aber nicht »ausgeübt«, das heißt von keinem juristischen Beruf gelebt, sondern aus andern Mitteln. Wie er in den Westen geflohen ist, hatte er nicht das nötige Papier und ging zu Fuß. Darum haben ihn die Grenzer zurückweisen wollen. Er sei aber schon diesseits der Grenze auf einem Stein gesessen. Warum hinaus, wenn er schon herinnen sei? Aber jetzt ist es ein ernster Fall. Der Präfekt (den kennt er also auch und vertraulich) habe ihm gesagt, er solle fortgehen und sich nicht zeigen. Warum sich nicht zeigen, wo die Puppe so schön ist? Sie ist ein »arisches Mädchen« und fünfzig Jahre jünger als er. Er ist also offenbar siebzig oder sie ein Kind. Warum hinaus, wo er schon herinnen ist? Er hat ihr noch fünfzigtausend Franken gegeben, wie sie ihn geschnappt haben, auf der Polizei direkt, wo der Präfekt doch allmächtig ist. »Puppe behalte das! Es ist ein ernster Fall. Ich hätte dem Präfekten glauben sollen!« Wird der Präfekt ihn »herausbringen«? Er wird nicht, ihm sind die Hände gebunden. Hitler hat zwanzigtausend Juden »geliefert« verlangt.

Ich weiß also den Grund der Reise und somit auch das Ziel. Erübrigt sich noch, zu wissen, wie sie mich bekommen haben. Von Bedeutung wäre es nur, einen Ausweg zu finden. Ich glaube allerdings nicht, daß meine Mitreisenden recht haben, wenn der eine seine militärischen Dienste, der andere sein zu erwartendes Kind, der dritte Spenden und Beziehungen für einen Entlassungsgrund hält. Ich selbst habe überhaupt keinen und doch nicht die Absicht, das »Ziel« zu erreichen.

Die mir gegenüber haben anscheinend lange genug über sich selbst gesprochen und suchen nach einem anderen Thema. Nun liege ich ihnen gerade bequem gegenüber. Sie sind zwar vielleicht nicht sicher, ob ich nicht wache, doch glauben sie offenbar, daß ich dies dann nicht zeigen würde.

Dr. Honigmann findet, daß ich ein Simulant sei. Der junge Soldat ist mit dieser Annahme einverstanden, was er auch durch die Worte »bestimmt« und »Drückeberger« zum Ausdruck bringt. Nur der schwammige Ehemann übernimmt meine Verteidigung. Er glaubt an meine Unschuld. Ich hätte mich nicht verstellt und sei umgefallen wie ein Stock. Die Wärterin habe mich links und rechts so stark gewatscht, daß ein normaler Mensch gestorben wäre, doch sei bei mir keine Reaktion eingetreten.

Ich erinnere mich jetzt einiger Einzelheiten. Sie hatten mich um sechs arretiert. Ich zeigte die Papiere der mütterlichen Großeltern meiner Halbschwester. Es hat nichts genützt. Sie sagten: Auf morgen! Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: Auf heute! »Man wird Sie schlagen«, war die Antwort. Sie behielten mich noch den nächsten Tag und vielleicht auch weitere Tage. Der alte Herr Siegfried hat mir ein Paket mit Zigaretten gebracht. Das fehlt jetzt. Man ließ ihn nicht zu mir hinein, und das war gut für ihn. Sie hätten ihn vielleicht auch geschnappt, obwohl er so alt ist. Ich wollte einen Gallenanfall bekommen und kaufte von einem Polizisten eine Flasche Bordeaux. Die trank ich auf nüchternen Magen leer. Als der Arzt noch da war, kam keine Wirkung, vielleicht aber später. Der Gürtel fehlt. Man muß mich also entkleidet haben. Ich liege auf drei Sitzen. »Auf drei Sitzen muß er liegen«, meint Dr. Honigmann. »Ohne ihn wären wir alle im Viehwagen gefahren«, erklärt der junge Ehemann, er hat offenbar keinen Sinn für Humor. Man wollte also jedes Aufsehen vermeiden. Welche Delikatesse!

Meine Tasche liegt unter meinem Kopf. Da waren nur meine Dokumente darin, vielleicht sind sie es noch. Mit einem Ruck setze ich mich auf. Ja, sie sind noch immer darin. Der junge Soldat ruft aus: »Habe ich es nicht gesagt?« Der Vater eines vermutlich nachgeborenen Kindes ist verdutzt. Ich gehe zur Tür. Dr. Honigmann faßt mich am Ärmel: »Man darf nicht hinaus.« Dann bin ich auf dem Korridor. Ein Brigadier der Gendarmerie schreit: »Wo wollen Sie hin?« Ich nenne den Abort. Er meint, ich sei bisher krank gewesen und hätte nicht können. Ich versetze, daß ich noch immer krank sei, aber jetzt müsse. Ich bleibe so lange aus, als ich es für richtig halte, und habe vor, in Zukunft nichts anderes zu tun. Ich kehre in mein Abteil zurück und reiße den Vorhang und das Fenster auf. Der Brigadier stürzt durch die Tür und brüllt, daß er das nicht dulde. Ich verteidige mich schreiend mit dem Bedürfnis nach Luft und Licht. Dr. Honigmann tuschelt zum Familienvater: »Jetzt werden sie ihn niederschlagen«, und ist enttäuscht, daß man es nicht gleich tut. Der Brigadier wirft mir zwar einen unguten Blick zu, schließt auch das Fenster, läßt aber den Vorhang offen. Der Kompromiß ist nicht mehr rückgängig zu machen.

Der Brigadier betrachtet mich jetzt durch die Glastür, und ich betrachte ihn auch. Bauch und Gesicht sind ihm gedunsen, die Augäpfel machen Planetenbewegungen, wobei es gleichgültig ist, wo das Weiße und wo der Kern sitzt. Doch entsetzen ihn offenbar die Blicke von Toten. Sein Schatten entschlüpft, und kurz darauf kommt ein anderer an seinen Platz. Der gehört einem Gendarm ohne Distinktion, aber von Gestalt und mit Zügen. Er öffnet die Tür zu unserem Abteil, dann auch einen Spalt des Fensters und zieht ein Stück des Vorhangs darüber. Dann erklärt er knapp, daß der Chef das Hinausschmuggeln von Briefen befürchte, nun aber vom Gang aus die von ihm vorgenommene Veränderung nicht wahrnehmen könne.

Die Stimmung im Coupé hat ein wenig zu meinen Gunsten umgeschlagen. Ich bin zwar ein Simulant, aber die andern profitieren von meiner Impertinenz. »Trauen Sie sich nur nicht zuviel zu, junger Mann!« äußert sich Dr. Honigmann. Er hat immerhin meine Abwesenheit dazu benützt, um seine Beine auf einem der von mir verlassenen Sitze zu postieren. »Man soll uns nur niemand hineingeben«, antwortete er auf den Vorwurf in meinem Blick. Er hätte dies auch wahrscheinlich auf einer Vergnügungs- oder Geschäftsreise gesagt.

Nun streckt er seine Beine auch noch seitlich aus. »Ob man wird schlafen können?« begleitet er diesen Vorgang. Jetzt streift er mit seinen Schuhen meine Hose. Sie bildet einen Teil des neuen Anzugs, den ich anhabe. Ich putze an der betreffenden Stelle. Dr. Honigmann ist beleidigt: »Wozu wollen Sie sie aufheben?« »Für die Zeit nachher!« »Wieso?« fragt Dr. Honigmann, »haben Sie nachher noch eine Zeit?« »Vielleicht«, antworte ich ihm. »Sie sind also gar kein Jud?« fragt er weiter. »Kann sein, daß Sie recht haben«, muß ich nun antworten, um mich nicht in seine Hände zu geben. »Hört, hört! Er ist als Goi geboren, daher hat er die Frechheit«, triumphiert jetzt der befriedigte Fragesteller. Der junge Soldat greift ein und will sich auf mich stürzen. Er findet die Solidarität der Todgeweihten durch mich ver-letzt. Die vom verhinderten Familienvater vorgebrachte Beschwichtigung, ich sei krank, er möge mich lassen, erweist sich als unzureichend. Sie ist mir auch nicht recht. Da hat sich ein junges Mädchen durch die Tür hereingeschoben und verhindert den Angriff auf mich mit den Worten, ich sei zwar nicht krank, es stehe aber nicht dafür, sich mit mir zu befassen.

Die Neuangekommene spricht Französisch, ist mondän gekleidet und trägt als einziges Uniformstück das Häubchen, das allerorten die weltlichen Krankenpflegerinnen aufhaben. Sie begleitet also offenbar die Kranken, deren einer oder einziger ich bin, im Zug bis zur Ablieferung. Das sieht gut aus. Wir haben schon Marseille hinter uns und bleiben doch an der Küste, wie ein verstohlener Blick hinter den Vorhang lehrt. Vielleicht sollen die Leute glauben, daß man uns über die Pyrenäen nach Spanien abschiebt, während man vorher Halt machen oder die Richtung rechtzeitig ändern wird.

Die Krankenpflegerin setzt sich auf halbem Hintern zwischen den Soldaten und den verhinderten Familienvater. Niemand hätte Lust, mit ihr »anzufangen«. Sie ist übrigens nicht Französin, sondern, wie sie sagt, Polin. Ihre Stimme hat das Herbsüßliche von Huren, die viel Bier genossen und einen guten Fang gemacht haben. Sie spricht dem Soldaten Mut zu, den er nicht braucht. Sie verspricht ihm, daß man ihn auslassen wird, weil er Frankreich verteidigt habe. Das sei eine Selbstverständlichkeit (obwohl doch gerade Frankreich ihn an seine früheren Feinde ausliefert): »Geben Sie mir zur Vorsicht Ihren Namen, den Namen Ihrer Leute! Was? Sie haben niemand? Ihre Anschrift in Nice! Ich habe Beziehungen.« Sie hat schon mehrere Transporte begleitet und weiß, daß man dort, wo man ausgeladen wird, eine Zeitlang bleibt. Wohin es geht, darf sie nicht sagen. Sie fährt aber gleich zurück. Die Zeit wird reichen. Der junge Soldat diktiert einen Haufen Anschriften. Einige Vorgesetzte und viele Kameraden wissen, daß er sich gut gehalten hat. Die Krankenpflegerin verspricht, alle Kommissionen zu besorgen.

Der verhinderte Familienvater mischt sich ins Gespräch. Er erzählt seinen Fall. Seine Frau erwartet ein Kind, das heißt: sie ist nicht einmal seine Frau. Sie haben ihn vier Tage vor der angesetzten Hochzeit festgenommen. »Ihr Fall ist nicht leicht. Wir werden sehen. Wir wollen hoffen.« Es stellt sich heraus, daß seine Frau Französin ist. Das könnte helfen. Die häubchentragende Hure schenkt ihm einen süßen Blick. Der schwammige Anwärter auf ein postumes Kind wiegt sich in Hoffnungen.

»Haben Sie keine Braut?« fragt sie wieder den jungen Soldaten, dessen Fall oder auch nur dessen Person ihr interessanter vorzukommen scheint. Wahrscheinlich hat er eine, aber er ist diskret oder intelligent genug, sie nicht zu nennen. Die Krankenpflegerin addiert indessen seine Frontzeiten. Die drôle de guerre war zu kurz, und er ist zu jung. Er hat sich tapfer gehalten, um so besser. Dann war die Sache aus, um so schlimmer. Sie wird ihr Möglichstes tun, trotzdem.

Der Brigadier öffnet plötzlich eigenhändig die Tür und schiebt zwei weitere Leute in das Abteil. Das ist seine Rache an mir. Ich sei ja jetzt gesund, brauchte keine drei Plätze mehr. Ein Herr nimmt neben den Füßen des Dr. Honigmann Platz, die dieser langsam zurückzieht. Er ist ein russischer Typ und ein Schuster aus Ostpolen, schon zwölf Jahre in Frankreich, aber noch nicht naturalisiert. Das war nämlich so: Einmal ging er auf fünf Monate heim zu seinen Leuten, dazwischen war seine Identitätskarte abgelaufen. Er hatte alle Mühe, wieder Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Darum genügt seine Zeit nicht. Nun raucht er eine Zigarette nach der anderen. Dr. Honigmann hustet, aber unterläßt es, zu protestieren.

Der Schuster trägt seinen Fall der Krankenpflegerin vor. Am neuen Hafen von Nice steht eine Bar, da hat er jemand. Schon zweimal haben die Deutschen ihn gehabt, beide Male haben sie ihn ausgelassen. Ein Schuster ist verwendbar, den läßt man nicht verhungern. Die Krankenpflegerin starrt diesen sonderbaren Gläubigen mit offenem Mund an. Vielleicht geht es, daß man ihm dicke Wäsche schickt, sonst ist ihm nicht bang. Man müßte freilich in der kleinen Bar am Hafen vorsprechen. Sein Fall wird angeblich von der Häubchenträgerin notiert, doch sieht man, daß sie kritzelt und nichts schreibt. Dr. Honigmann hebt warnend den Zeigefinger. »Diesmal wird es ernst«, sagt er.

Nun fragt die Krankenpflegerin ihn um seine Daten. Er hat einen ganzen Akt bei sich. So und soviel hat er immer für das Rote Kreuz gegeben, so und soviel dem Dr. Seipel. Er ist zwar ein Jude, aber glaubt allen, die glauben. »Auch Hitler ist vielleicht ein Gläubiger.« Dem jungen Soldaten widerstrebt diese umfangreiche Gesinnung. Er vergißt die Gegenwart des Mädchens und meint: »Wir Juden müssen zusammenstehen.« Die Dame vom Roten Kreuz gibt ihm einen verzeihenden Blick, er ist auch zu hübsch. Im übrigen gehört sie bereits dem Dr. Honigmann. Der hat eine gelähmte Schwester in Nice, die »furchtbar viel« für das Rote Kreuz hergibt. Ein Besuch bei dieser Schwester kann jedenfalls nicht schaden. »Sie kommen heraus«, wird ihm gesagt. »Vielleicht«, meint er, doch glaubt er selbst nicht daran.

Der zweite vom Brigadier hereingeführte Herr läßt sich jetzt zum ersten Mal vernehmen. Er ist beleibt und groß und stark und kann nur aus Deutschland stammen. Das tut er auch, und das wäre an sich nicht schlecht. Er ist aber Jude, und darin liegt der Mangel. Es hilft auch nichts, daß er in Aussehen, Gesten, Gesinnung und Worten eine lebendige Widerlegung der Rassentheorie ist, ganz im Gegenteil, ein Grund mehr, ihn beiseite zu schaffen. Er war Fabrikant und ist mit zwei großen Reisekoffern gekommen, im übrigen aber vollkommen skeptisch. »Meine Frau ist auch irgendwo im Zug«, sagt er und setzt überlaut und mit Rednermiene hinzu: »Meine Herren, lassen Sie sich nichts vormachen! Wir werden natürlich alle vergast.«

»Woher wissen Sie das?« ruft die Krankenschwester, die gerne diese Ansprache überhört haben würde, aber offenkundig nicht konnte. »Ich habe meine sicheren Informationen. Sie machen das jetzt noch in den Zügen, hermetisch verschlossen selbstverständlich. Sie bauen aber schon eigene Gebäude dafür, ungemein praktisch. Ja, die Deutschen verstehen das«, bemerkt er bewundernd. »Natürlich Sie, Frau Krankenpflegerin, wissen rein gar nichts. Dabei pfeifen es allmählich schon die Spatzen von dem Dach. Sie begleiten die Züge bis zur Ablieferung, aber Sie wissen wahrscheinlich nicht, warum. Nach dem Krieg wird es ohnehin so was gar nicht gegeben haben, meine Herren. Keiner wird dabeigewesen sein. Sie verstehen auch wahrscheinlich nicht Deutsch, Sie kleines Aas, dabei können Sie es so gut wie ich! Sprechen Sie Deutsch, zum Teufel! Wir sind ja hier alle Deutsche oder verstehen es doch besser als Französisch!«

Die Krankenpflegerin wird blaß, bleibt aber beherrscht. Sie sucht nach einem fremden Akzent, zieht ihn mit der Zunge nach, indem sie ihn deutsch fragt: »Was haben Sie für Atouts?« »Ich habe keines. Man wird mich vergasen wie die, die welche haben.» »Wozu dann das viele Gepäck?« forscht sie höhnisch. »Mir ist es noch lieber, daß es die Deutschen bekommen als ihr, verfluchtes Pack, die ihr uns verkauft habt«, lautet die Antwort.

Die Krankenpflegerin ist sichtlich aufgebracht, sei es namens des Roten Kreuzes, sei es namens der französischen oder polnischen Nation, vielleicht sogar privat. Sie kann aber diesem Mann gar nichts anhaben, der dazu ausersehen ist, von deutschen Händen gemartert und ermordet zu werden. Sie könnte nur seine Lage verbessern, wenn sie ihn anzeigte und vor ein französisches Gericht stellen würde. Sie kann ihm nicht einmal etwas androhen, denn er kennt seine Lage genau und würde ihren Drohungen nur ins Gesicht lachen. In diesem Augenblick fällt ihr Blick auf mich, und sie erinnert sich an etwas, an das ich mich nicht erinnere: »Du auch hier? Aber es geht schon besser, wie ich sehe. Meine Ohrfeigen sind dir wohl bekommen. Der Brigadier ist viel zu gut für dich! Man sollte dich schlagen, schlagen, schlagen, bis du nicht mehr aufstehst! Wenn sie alle auslassen, für dich ist keine Hoffnung, du wirst vergast.«

Sie wartet nicht auf Antwort, sondern ist schon verschwunden. Ich hätte zwar Lust, ihr nachzulaufen und ihr einen Tritt in den Hintern zu geben, bin aber der Güte des Brigadiers und der andern Gendarmen nicht so sicher, wie sie offenbar annimmt. Ich schaue daher in die Luft und tue, als ob mich das gar nichts anginge. Das gelingt mir natürlich nicht. Der deutsche Fabrikant freut sich königlich und gibt mir einen Renner mit dem Ellbogen. »Das gilt mir«, wiehert er, »nur mir traut sie es sich nicht zu sagen!«

Dieser Ausspruch deklariert meine Schlappe mit ihrem wahren Namen, und es zählt nicht, daß ich nicht einmal weiß, worauf sie anspielte und was sie eigentlich gegen mich hat, aber ich mag sie auch nicht, und das könnte gegenseitig sein. Dr. Honigmann findet übrigens, das bekäme mir auch nicht schlecht, und ich sei bereits zu frech gewesen. Der junge Soldat schließt sich seiner Meinung an, und diesmal widerspricht sogar der postume Kindesvater nicht, denn er befürchtet keine Tätlichkeit. Selbst der Schuster stimmt zu, obwohl er mich wahrscheinlich gar nicht kennt und zum ersten Mal sieht. Ich glaube, ich werde mich über die öffentliche Meinung hinwegsetzen müssen. Nur ist dieses Hinwegsetzen schwer, wenn man gefangen ist und mit ihr in einem Wagenabteil.

Wir fahren in einer größeren Station ein, und es scheint, daß die meisten Gendarmen ausgestiegen sind. Ein elegan-ter Mitgefangener, es ist der Waggonkommandant, wie er sagt, erscheint in der Tür und ermächtigt uns zum Lösen des Vorhangs und Offenhalten des Fensters auf seine Verantwortung. Er ist übrigens gleich wieder fort. Die Krankenpflegerin kommt zurück und verteilt Rasierseife, Seife und Schokolade, die die Israelitische Gemeinde der Stadt gespendet hat. Mir bringt sie nichts. »Sie sind ja kein Jud«, bemerkt sie. Damit hat sie die andern weiter auf ihrer Seite, dann huscht sie fort. Ein Zug fährt gegenüber ein. Fette Spießbürger zeigen sich an den Fenstern und beäugen uns schadenfroh. Der allerfetteste schreit, wobei ihm der Bauch vor Erregung zittert, als er die Seitentür öffnet, um sich zur Gänze im Türrahmen zu zeigen: »Wohin führt man diese koscheren Juden spazieren?« »Dorthin, wohin ihr feigen Schweine uns verschachert habt!« brülle ich ihm zu und reiße das Fenster ganz herunter. »Wir sterben! Du Stück Dreck stinkst weiter!«

In diesem Augenblick prägt sich mir, obwohl ich mir sonst weder Gesichter noch Körper leicht merke, Statur und Fresse meines Gegenübers so genau ein, daß ich ihn überall erkennen würde, wo immer und in welcher Kleidung ich ihn wiedersähe, auch nach Jahren. Aber würde ich ihm noch einmal wieder begegnen können? Im Augenblick glaube ich, ja. Ich habe plötzlich den Entschluß gefaßt weiterzuleben, obwohl ich noch keine Ahnung habe, wie er ausführbar wäre.

Ich erinnere mich eines Vorfalls aus friedlicher früherer Zeit, in dem ich auch angesichts des Todes, der mich schon in den Krallen hatte, im Zorn den Entschluß zu leben faßte und später durchsetzte. Ich lag in einem Krankenhaus, auf den Tod versehrt und in dessen Erwartung. Ein schlechter Diagnostiker, aber guter Operateur hatte meine Krankheit ursprünglich nicht ernst genommen und meinen Bauch erst geöffnet, als die Gedärme geplatzt, das Fell von Eiter und Kot geschwollen, das Blut vergiftet, die Eingeweide gelähmt und Lungen und Rippen entzündet waren. Man hatte mir Champagner gebracht, um mich für die letzte Stunde zu berauschen. Doch lehnte ich ab zu trinken, denn ich befand mich auch so in fröhlicher Euphorie, ja hatte schon dem Arzt beim Erwachen aus der Narkose auf seine Frage nach meinem Befinden das Testament Nestroys zitiert, daß man mir in Anbetracht der hohen Fortschritte der medizinischen Wissenschaft, »indem die Ärzte, wenn sie einen umgebracht haben, nicht einmal genau wissen, ob der wirklich schon tot sei, einen Herzstich verabreichen möge«. Er war damals böse von mir gegangen und ist, wie viele große Versager, später ein großer Nazi geworden oder war es schon damals. In der dritten Nacht hatte eine geistliche Schwester bei mir Dienst gemacht und sich darüber beklagt. Sie stank nach Fisch, gegen dessen Genuß ich eine angeborene Abneigung habe. Ich hieß sie, mich zu verlassen, was sie nicht tat, worauf ich – mit zwei Löchern im Bauch und mit je einem Schlauch darin, aus dessen einem Kot, dessen andrem Eiter abfloß, und zufolge Lähmung der Därme weder mit Kräften ausgestattet noch beweglich – mühsam das Holz, das für leichter Aufrichtbare herabhing, aus den pendelnden Schnüren löste, um mit ausgestreckter Linker, verlängert durch diesen Stab, und mit einem Bein, das ich langsam aus der Decke zog, die Passage zum Fenster zu sperren, wohin die Fischstinkerin gegangen war, damit sie Ozon hole, wie sie erklärte. »Behalten Sie Ihr Ozon,« sagte ich damals, »und bewahren Sie mich vor Ihrem Fischgestank. Sie werden früher sterben als ich, wenn Sie es wagen, vom Fenster hervor zu meinem Bett zu kommen.« Dabei blieb ich die ganze Nacht wach, um meinen Entschluß durchzusetzen, und drohte mit dem Stab, den ich krampfhaft hielt und den sie mir nicht zu entwinden versuchte. Als ich am Morgen wegen aufgetauchter Schmerzen nach meinem Champagner verlangte, verweigerte man mir diesen, da schon ein wenig Hoffnung auf Überleben vorhanden war.

Obwohl es zweifellos zu den richtigsten Erkenntnissen gehört, daß der Kampf gegen die Dummheit, die zumeist auch die Gemeinheit und immer das Schlechte ist, wenig Aussicht auf Erfolg hat, und es viel empfehlenswerter ist, sich ihrer zu bedienen, als gegen sie aufzutreten, habe ich ausnahmsweise vielleicht noch gründlicher gesiegt als der Fabrikant gegen die Krankenschwester. Denn der feiste Mann im Türrahmen senkt nicht nur seine Augen, weil er meinen Blick nicht aushält, sondern schließt die Tür und danach das Fenster, und die andern Feisten folgen nach und nach seinem Beispiel.

 

S. 303 bis S. 313

Die Ordnungsgewalt in der Gemeinde Caminflour, bestehend aus den Ortschaften La Commune, Maisonpierre und Audelà, ist inzwischen auf das Zollwachepersonal als einzige offizielle Repräsentanz ähnlicher Obliegenheiten übergegangen. Am 28. August haben die Deutschen Nice geräumt. Noch vor ihrem Abzug wurden der schöne Gendarm und seine beiden Kollegen nach Nice abberufen. Das ist sogar auf Veranlassung der Deutschen geschehen, weil irgendwo in der Haute Savoie die Gendarmen mit den Maquisarden gemeinsame Sache gegen die Deutschen gemacht hatten. Daß hier nie eine ähnliche Tendenz bestanden hat, wurde dabei nicht veranschlagt.

Nach der Räumung von Nice hustet Herr Lebleu Blut und wird in einem Auto in diese Stadt transportiert. Niemand weiß, ob er wirklich dort ankommt, denn die Straßen sind noch unsicher. Nachdem die Gendarmen weg sind, wird nunmehr von Lebleu rührender Abschied gefeiert und dessen kleiner Hund wieder von mir übernommen. Vielleicht wäre es besser gewesen, Lebleu hinabzubegleiten, denn es besteht für mich kein Grund, hierzubleiben, doch suche ich nach einem solchen. Mein Kapital ist auf Null zusammengeschrumpft. Außer ein paar Büchern besitze ich nichts Verwertbares, und für die hat niemand hier Interesse. Das mit der Geldsendung aus Nice hat nur im Traum geklappt, wirklich war nur der Reflex mit dem Regenschirm, der dank einem Wunder glimpflich für mich abgelaufen ist. Ich gehe in den Wald um Holz und Pilze. Das Holz heizt meinen Herd, der immer noch raucht und den die Eigentümer nicht richten lassen. Die Pilze tausche ich gegen andere Lebensmittel und esse nur die, welche die andern nicht kennen. Die Bauern gehen nicht mehr in den Wald, es ist zu gefährlich, doch lieben sie jene Pilze, die sie kennen: den boletus edulis, den amanita Caesarea, den agaricus campestris und auch den Pfifferling, dessen lateinischer Name mir gerade entfallen ist. In Nice würde ich nicht heizen müssen, hätte Freunde und einen Aufgabenkreis, der sich vielleicht bezahlt machen würde, und wäre sicher, jetzt Geld aufzutreiben. Pilze gibt es dort allerdings nicht. Aber bleibe ich wirklich wegen der Mykologie, oder bleibe ich, weil ich hier niemand mehr habe als die Gefahr und Herrn Nocquer, der diese bei Bedarf und ohne solchen herbeiführt oder vergrößert und mir nichts zu sagen hat, außer daß auch so etwas lebt wie er?

Ich denke nicht darüber nach, ich bleibe, das ist alles. Dabei weiß ich, daß es kein Bleiben ist, aber vielleicht ein Aufenthalt auf einer unsentimentalen Reise, deren Ziel ich nicht kenne, wenngleich Gründe für die Annahme bestehen, daß es ein besseres sei als das ursprünglich vermeinte, aber haben mir Gründe je etwas gesagt? Ich lebe mehr im Wald als daheim. Auch klaube ich Fallobst auf, aber verstohlen, denn die Bauern gönnen mir selbst dies nicht. Die alte Bäuerin, die nur in die Kirche kommt, um auch noch für den Fall, daß der von ihr geleugnete Gott doch existieren sollte, gut zu fahren, hat mir sogar verboten, in ihrem Wald Pilze zu sammeln. Da sie außerdem die Mutter der Besitzerin des Hauses ist, in dem ich wohne, muß ich ihr Verbot entweder ernst nehmen oder geschickt umgehen. Ihr Wald ist allerdings der ergiebigste von den nahegelegenen, dort finde ich hier und da auch einen Konkurrenten, denn die Gefahr ist hier nicht so groß. Allerdings sind die Erdbeeren und Heidelbeeren sehr spät gekommen und die Brombeeren noch zu gewärtigen. In zweitausenddreihundert Meter Höhe ermißt man erst richtig die Weite der Welt, während unten die Grenzen nahe sind. In dieser Gegend sind die Kühe auf der Alm, das Gras steht gut, denn es hat auch häufig genug geregnet. Die Almhirten servieren mir Käse und Molke und werden später, wenn alles gut ausgeht, bei mir Wein bekommen. Ich erzähle ihnen von der Befreiung Nizzas, von der sie noch nichts wissen, und sie berichten mir, daß einem der sechs FFI die Flucht gelungen ist, daß sie ihn bei sich beherbergt haben und daß er den Weg nach Sainte Marthe genommen hat. Es ist gut, daß einer entkommt, auch wenn die andern zugrunde gehen.

Am sechsten September kommt ein Auto der Gendarmerie nach Caminflour La Commune. Es bringt den alten Gendarmeriechef, den man früher kaum bemerkt hat, wieder zurück. Es ist ein unscheinbarer Geselle mit Subalternengesicht, der jede kleine Rolle übernehmen und mittelmäßig spielen würde. Ein gewaltiger Gendarm, hünenhaft wie der General de Gaulle, ist in seiner Begleitung. Beide schwingen ihre Kolben und erklären, alle Deutschen abschießen zu wollen. Der schöne Gendarm ist nicht mehr wiedergekommen. Manche sagen, daß er entlassen worden ist, manche, daß er erschossen wurde.

Wenn ich um Pilze gehe, sehe ich den Hünen mit Madeleine, dem schönen Bauernmädchen. Im Walde begegne ich ihm dann mit Alice, einer Minderschönen. Als ich zurückkehre, schleicht er sich aus dem Gebüsch mit einer, die geradezu häßlich ist, ich kenne sie aber nicht. Nun nimmt die ganze Bevölkerung für die Befreier Partei. Der Sous-Chef rät mir und den restlichen Sommergästen, nach Nice hinunterzufahren. »Was wollt ihr noch alle hier? Was machen Sie, Monsieur Coucou, im Wald? Die Deutschen können jederzeit wiederkommen. Dafür sind wir, die bewaffnete Macht, da. Für euch haben wir Nice befreit.« Ich weiß zwar nichts von seiner Befreiungstätigkeit, mache aber auch nicht von seinem Angebot zur Rückkehr Gebrauch. Die meisten Sommerfrischler steigen jetzt auf den Lastkraftwagen auf, der gerade vor meinem Hause hält. »Überlegen Sie sich die Sache doch noch!« ruft mir der Sous-Chef Marmitot zu. Zu dieser Überlegung kommt es nicht. Die Gendarmen haben noch Zeit, ihren Wagen, wie ein Boot in das Meer, zur Fahrt nach unten abzustoßen, und sind aus irgendeinem Grunde dann selbst auf ihn aufgesprungen, obwohl sie doch die Gegend mit geschwungenen Kolben gegen die Deutschen verteidigen wollten. Kaum hat sich das mit ungeheurer Geschwindigkeit vollzogen, als Herr Nocquer mit einem größeren deutschen Trupp über den schmalen Pfad von seiner Villa in Maisonpierre hier einlangt.

Die Deutschen dürften aus dem Wald heruntergekommen und in die Nähe seines Hauses gelangt sein, und er hat ihnen offenbar aus Angst oder Gefälligkeit den Weg in die Ortschaft La Commune gezeigt, die ohnehin bei der letzten Heimsuchung genügend ausgeplündert worden war. Bei dieser Gelegenheit dürfte er seine schwachen Kenntnisse der deutschen Sprache durch entsprechende Gebärden erfolgreich ergänzt haben. Man sieht aber bereits, daß seine Gesten nicht mehr ausreichen, die Deutschen hören ihm kaum noch zu. Nun sucht er offenbar nach einem andern Dolmetsch zu seiner Unterstützung, ohne selbst abtreten zu wollen, und dieser andere bin offenbar ich.

In dieser ausweglosen Situation treffe ich meine Vorbereitungen schnell. Da die Bauern der Ortschaft noch alle versammelt sind, zumal sie es sich nicht hatten nehmen lassen, die Sommergäste zum abtransportierenden Lastauto zu begleiten, und nun in zwei Gruppen herumstehen, offenbar schon nach links und rechts geschieden, wende ich mich zunächst an einen Bauern der rechten Gruppe, der etwas Deutsch spricht, und instruiere ihn, im Falle der Fragestellung den Besatzern anzugeben, daß sieben amerikanische Wagen mit rund siebenhundert Mann vorbeigefahren wären. Dann wende ich mich an die linke Gruppe, in der immerhin ein Mann schlecht Deutsch spricht, wenn auch besser als Herr Nocquer, und erkläre ihm: »Sie sagen, die Camions kamen von dort, es waren fünf Wagen mit fünfhundert. Sie fuhren in die andere Richtung und wollen wiederkommen. Wann, haben sie nicht gesagt.«

Mehr Zeit habe ich nicht, denn Herr Nocquer ist bereits mit dem Trupp eingelangt, kommt auf mich zu und erklärt in bezug auf mich: »Dieser Herr ist ein Österreicher!« Der Führer der Kolonne fragt, wie ich es nicht anders erwartet habe: »Wieso sind Sie hier, wenn Sie Ostmärker sind?« »Ich bin es seit zwanzig Jahren und habe daher Gelegenheit, Ihnen jetzt zu dienen.« »Vorerst möchte ich wissen, wieso Sie diese Gelegenheit haben.« »Leider ist keine Zeit, Ihren Wissendurst zu stillen. Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß die Amerikaner aus dieser Richtung gekommen und in diese Richtung gezogen sind. Sie haben die Absicht, bald wiederzukommen.« »Das entspricht ganz und gar nicht unserer Information.« »Das dachte ich mir. Darum habe ich Gelegenheit, Ihre Informationen zu ergänzen.« Ich wiederhole noch einige Male unter Einbegleitung von Zeichen, was ich soeben gesagt habe, damit auch der rechte Trupp im Falle der Fragestellung, trotz mangelnder Aufklärung durch mich, die richtige Richtung angeben kann. »Wieviel Mann waren es?« fragt nun der Offizier. »Es waren sechs große Camions mit sechshundert Mann.« »Wir müssen das überprüfen.«

Herr Nocquer hat diesen Teil der Unterredung leider verstanden und ist totenbleich, so zittert er um sein Leben. Auch unterbricht er mich sofort: »Es ist alles nicht wahr!« kreischt er nunmehr in einem Gemisch von Französisch und Deutsch. »Dieser Herr lügt!« Aber nun ist der gute Wirt an meiner Seite, der den Mut hat, den Sturm für mich aufzuhalten, und der auch die Obrigkeit ist, die letzte, die hier standgehalten hat. »Dieser Herr hat gar nichts sehen können«, sagt er jetzt in halbwegs gutem Deutsch. »Er war in seiner Villa, wo Sie ihn getroffen haben, die Sicht ist dort durch Häuser und Bäume verstellt. Auch hat sich alles hier sehr schnell abgespielt.« Diese Antwort gibt mir wieder Mut, ich ergänze sie aber vorsichtigerweise sogleich. »Was Ihnen der Herr Bürgermeister gesagt hat, müßte Ihnen eigentlich genügen. Doch muß ich Ihnen noch sagen, daß Herr Nocquer nervenkrank ist, was Sie ja aus seinem Zustand erkennen können, und daß er sich deshalb in der Villa dort oben befindet. Sie sollten aber die Leute links und rechts fragen, wie es sich mit den Amerikanern verhält. Einige von ihnen sprechen auch Deutsch.« »Nicht nötig, ich spreche etwas Italienisch, das wird man hier auch verstehen.« Daran hatte ich nicht gedacht. Es tritt nun eine Ge-fahr hinzu, weil einige Bauern vielleicht wirklich Italienisch können, die haben meine Antwort nicht verstanden. Ich winke daher schnell den designierten Interpreten, vorzutreten, und diese, die bereits in der Menge untergetaucht sind, entnehmen meinem Lächeln und der Anwesenheit des Bürgermeisterstellvertreters, daß die Sache günstig stehe, und reißen das Wort an sich. Der rechte Dolmetscher erweist sich dabei als besonders geschickt und weiß weit mehr Einzelheiten, als ich ihm eingeschärft habe, der linke allerdings hat anscheinend einiges vergessen, oder sein deutscher und italienischer Wortschatz reicht nicht aus. Dann höre ich den Leutnant zu seinem Feldwebel sagen: »Es scheint, daß dieser Kuckuck nicht gelogen hat. Alle erzählen von den Amerikanern, auch daß sie schwer bewaffnet sind und bald wiederkommen. Nur über ihre Anzahl und die Menge der Kraftwagen weichen ihre Angaben voneinander ab. Das spricht eher dafür, daß die Antwort nicht einstudiert ist.«

Der Bürgermeister fragt durch mich die Deutschen noch, ob sie sich uns nicht ergeben wollten, die Amerikaner seien sehr stark und hätten viele Geschütze. »Wenn Sie es schon wissen wollen, wir sind einundachtzig und auch nicht schlecht ausgerüstet. Auch ich bin übrigens Ostmärker, und dieser Soldat ist aus Traiskirchen bei Wien, er studiert Medizin. Wir als die engsten Landsleute des Führers werden uns nie ergeben. Wir warten auf den Sieg.« Da ich sehe, was für ein Esel er ist, versuche ich von ihm zu erfahren, woher er gekommen ist, zumal er auf unsere Auskunft hin wahrscheinlich dorthin zurückkehren wird. »Finden Sie nicht, daß diese Gegend unserer Heimat gleicht? Wenn man die Seen sieht?« »Wir haben keine gesehen.« »Dann die Mühlen.« »Auch diese nicht.« Ich frage noch nach ein paar Eigentümlichkeiten der Gegend, bis nur ein Weg übrigbleibt, auf dem sie gekommen sein können. Nun fällt Herr Nocquer wieder ein und zischelt: »Reden Sie nicht so viel mit ihnen! Die Bevölkerung wird noch glauben, daß wir von der Gestapo sind.« Die Deutschen verlangen sogleich, daß ihnen das übersetzt wird. Ich übertrage diesmal Wort für Wort die Meinung Nocquers. Der ganze Trupp schüttelt sich nunmehr vor Lachen.

»Meine Herren, wenn Sie sich uns nicht ergeben wollen, in welchem Falle ich für Ihre Sicherheit bürgen würde, rate ich Ihnen, sich jetzt abzusetzen. Ihre Vorgänger hier haben den Ort geplündert, fünf Geiseln weggeführt und eine Frau geschändet. Die Amerikaner würden Sie vielleicht mit diesen verwechseln und als Kriegsverbrecher behandeln.« »Sie haben recht, Herr Kucku«, erklärt der Offizier, »und wenn Sie wirklich einer von denen sind, über die Herr Nocquer gesprochen hat, dann halten Sie sich hier so gut wie bisher, denn wir kommen wieder mit dem Endsieg. Heil Hitler!« Zum ersten Mal in meinem Leben muß ich diesen Gruß ebenso erwidern. Ich fühle einen eklen Geschmack auf der Zunge.

Nun kann ich auf die andere Seite des Waldes gehen und meine Schwämme für den Mittagstisch suchen. Die letzten drei Tage habe ich sie alle in natura verzehrt, die Bauern haben mir nichts in Tausch gegeben. Wie ich mich aber in meine nunmehrige Richtung begeben will, faßt mich der gute Wirt und Stellvertreter für den von Vichy eingesetzten Bürgermeister am Ärmel und zieht mich an diesem mit sich bis in sein gutes Wirtshaus. »Sie speisen heute mit uns!« erklärt er bestimmt. »Sie wissen, daß ich kein Geld habe, Herr Ramier!« »Sie sind mein Gast und der der ganzen Gemeinde.« Ich trete verwundert ein und weiß nicht, warum mir das geschieht. Da ich aber gelernt habe, mein Schicksal hinzunehmen, ohne nach Gründen zu fragen, ergötze ich mich auch an dem köstlichen, für mich völlig ungewöhnlichen Essen, bestehend aus Suppe, Braten, Kartoffeln und einem Stück Torte, und obwohl ich sonst als hastiger Esser gelte, brauche ich zur Aufnahme dieser Mahlzeit ungewöhnlich lang, so daß der Wirt Geduld mit mir haben muß, auch bin ich sein einziger Gast.

Nachdem ich doch schließlich das göttlich mundende Werk der Kochkunst, vermehrt um nektarischen Wein, langsam in mich aufgenommen, halte ich mich schon für übel bezecht, als ich den Wirt neuerdings an meinen Tisch treten sehe, er meine Hand ergreift und Geld in diese drückt. »Hier, das ist Ihres«, sagt er ruhig. »Wenn Sie wieder einmal welches brauchen, wissen Sie, wo es zu finden ist!« »Ich nehme kein Geld«, rufe ich entrüstet. »Sie werden es, wenn Sie wollen, zurückzahlen, sobald Sie können. Im übrigen gebe ich es Ihnen für die Gemeinde, im Namen aller.«

Ich beginne nun zu begreifen. Ohne daß ich es bemerkt, geschweige denn gewollt habe, bin ich in wenigen Minuten zu einem Helden geworden. Ich hätte nie gedacht, daß das so einfach ist und man es selbst gar nicht so empfindet. Ich habe jeden Abend wissentlich und freiwillig mein Leben für ein Nachtmahl riskiert, und manchmal nicht einmal für soviel, und trotzdem hat mich niemand je darum für einen Helden gehalten. Ich habe mich auch im Auffanglager wegen Nichtzuteilung des Weins so unbotmäßig aufgeführt, daß meine Freilassung in Frage stand und leicht in eine Vergasung hätte umgewandelt werden können. Diesmal habe ich im eigenen Interesse nicht anders gekonnt, als ein Held zu sein, sonst wäre es für mich gefährlich schiefgegangen. Man merkt also dergleichen selbst nicht, hat gar keine Zeit dazu und erfährt es erst von den anderen. Ich zähle beschämt mein Geld, es sind dreitausend Franken, so viele habe ich schon lange nicht beisammen gehabt, auch nicht beisammen gesehen.

Ich bringe mein Geld in Sicherheit, verschenke die Pilze, die meine heutige Mahlzeit bilden sollten, an meine Nachbarn und begebe mich dann trotzdem in den Wald, um für den morgigen Tag vorzusorgen. Ich habe nicht vor, ein weiteres Festessen für meine Heldentat zu absolvieren. Dieser Gedanke erweist sich übrigens als sehr lohnend. Ich finde so viele Schwämme, daß ich sie kaum tragen kann. Auf meinem Rückweg treffe ich das ganze Dorf, vor dem Haus, in dem ich wohne, Spalier stehend. Ich werde mit solcher Ehrfurcht begrüßt, daß ich es kaum fassen kann, da man mich bisher scheel angesehen oder gar nicht beachtet hat. Nur durch schnelles Verschwinden in meiner rauchigen, von außen unsichtbaren Küche kann ich vermeiden, auch noch Ansprachen über mich ergehen zu lassen. Es klopft zwar wiederholt an meine Tür, doch mache ich nicht auf.

Wie ich aber am nächsten Tag ausgehe, werde ich jeden Augenblick angeredet und auch geduzt. Besonders der Totengräber versichert mich seines Interesses an meinem körperlichen Wohlbefinden. Ich bin irgendwie in den Verband der Gemeinde aufgenommen. Das veranlaßt mich, den Inhalt eines Korbes Pilze zu verteilen und die Anregung zu geben, durch die noch intakt gebliebenen Telephonleitungen Kontakt mit den Amerikanern zu suchen, die sich bereits in der Nähe befinden müssen. Ich möchte so einerseits die Wiederkehr der Nazis unmöglich machen, andererseits durch die Besetzung dieses sehr wichtigen Platzes, der zwei Gebirgstäler miteinander verbindet und für deren sechs oder sieben wichtig sein kann, auch die Sicherung von Nice bewirken.

Verhältnismäßig schnell bekomme ich die Verbindung, und diesmal ist mein Englisch soweit in Ordnung, daß ich bald verstanden werde. Allein, wie Grabbe sagt, vom Verstehen zum Begreifen ist ein weiter Weg. Der Offizier am Ende des Drahts ist nicht auf Draht. Schließlich begreift er, wie man von Sainte Anne heraufkommt und wie wichtig der Platz ist, doch bin ich nicht gewiß, ob er auch wirklich kommen wird, und rufe daher auch noch in Sainte Catharine an, dem Ort, wo Oberst Dissentin sein soll. Ich will auch von hier die Amerikaner rufen, die sicher schon eingelangt sind. Das mit dem Oberst stimmt nicht mehr, die Amerikaner sind aber da. Der Offizier, der dort befiehlt, versteht etwas schneller und begreift etwas besser. Ich habe den Eindruck, daß er kommen wird, und verständige die Gemeinde sofort von dieser Wahrscheinlichkeit.

Am Abend beratschlagen die Honoratioren der ganzen Gemeinde etwas hinter verschlossenen Türen. Den guten Wirt hat man im übrigen nicht beigezogen, er scheint kompromittiert, weil er für Vichy war. Den Vorsitz führt daher der Oberste der Zollwache, Monsieur Feribondaux. Man teilt mir bald darauf das Resultat dieser Beratungen mit. Man hat vorgeschlagen, mich zum Bürgermeister von Caminflour zu wählen. Mein Einwand, daß ich nicht einmal Franzose sei, wird nicht zur Kenntnis genommen, das sei jetzt unwichtig. Immerhin bleibt es zunächst bei diesem Vorschlag. Ich schäme mich sehr, zumal ich überzeugt bin, daß Ramier der bessere Mann ist. Sogleich ziehe ich mich nach Hause zurück, verfalle in Schlaf und träume, wie ich zusammen mit Dr. Honigmann mager wie ein Gespenst in die Gaskammer eingewiesen werde.

Sehr zeitig am Morgen darauf bin ich schon wieder im Wald, um Pilze zu holen, und spät gegen Mittag erst bin ich zurück. Ich habe einen neuen Kocher erhalten, er stammt aus dem Nachlaß Lebleus, und der hat ihn erst kurz vorher von der Hinkenden zur Verfügung gestellt bekommen. Auf diesem Kocher schmoren die Pilze schnell. Da klopft ein Bauer an meine Tür: »Sie sprechen Englisch, rasch, Herr Bürgermeister, die Amerikaner sind da! Sie kommen aus Sainte Catharine.« »Warten Sie einen Augenblick. Meine Pilze stehen auf dem Feuer.« Sie warten leider nicht. Sie ziehen bereits weiter. Ein anderer Dolmetscher hat sich ihnen zugesellt, es ist wieder Herr Nocquer. Ich befürchte das Schlimmste! Es wird sicher alles schiefgehen. Sie werden vorübermarschieren, oder es wird sich noch Ärgeres ereignen. Ich lasse meine Pilze im Stich und springe durch das Fenster auf die Veranda. Herr Nocquer weist mich mit Hochmut zurück: »Der Dolmetscher bin ich.« Ich bitte und beschwöre ihn und nähere mich dem Trupp. Man hört mich nicht an, man marschiert. Ich kehre zu meinen Schwämmen zurück, die ich inzwischen vom Kocher auf den Herd gestellt hatte. Sie sind auf dem starken Feuer verkohlt. Heute bin ich kein Held.

 

Nachwort

Viele Züge fahren durch Albert Drachs Emigrationsbericht Unsentimentale Reise: Züge, die den Protagonisten in Sammellager transportieren oder von dort wegbringen, Züge, aus denen man entkommen muß oder auf deren Ankunft man lange vergeblich wartet. Jener Zug aber, in dem wir Drachs Alter ego Peter/Pierre Kucku am Anfang des Textes begegnen, ist der Zug, mit dem er und seine unfreiwillig Mitreisenden nach Rivesaltes deportiert werden, jenes Auslieferungslager, von dem aus weitere Züge in die Vernichtungslager des Ostens fahren.

Lapidar ist die Sprache: »Die Vorhänge sind dicht zugezogen. Nach einem Ruck bin ich in Bewegung, ohne mich zu rühren. Sie tragen mich maschinell. Ich bin in voller Fahrt.« (UR 7) Niemand hat Kucku nach dem Fahrziel gefragt. Und doch wird er durch die Gespräche der anderen bald davon erfahren: »Hitler hat zwanzigtausend Juden geliefert verlangt.« (siehe Kommentar zu S. 9) Auschwitz ist das Endziel, das Kucku nicht erreichen will. Um das zu gewährleisten, muß er vor allem eines tun: sich nicht mit seinen Schicksalsgenossen identifizieren, deren Schicksal er eben nicht teilen will. Er ist ein »ernster«, aber doch ein anderer Fall. Auf welche Trümpfe seine Mitgefangenen auch immer vergebens setzen, er glaubt, ein weitaus besseres Blatt zu haben – richtige Dokumente, die man falsch interpretieren kann. Vorraussetzung des Überlebens ist die glaubhafte Leugnung der jüdischen Identität und somit der Herkunft von einer jüdischen Mutter. Oder genauer: eine Argumentation, die es plausibel erscheinen läßt, nach dem Buchstaben des Gesetzes, das im mit den Nazis kollaborierenden Südfrankreich gilt, kein Jude zu sein. Kucku/Drach verfügt über einen Heimatschein, auf dem für »Israelitische Kultusgemeinde« das Kürzel I.K.G. steht, das er mit »im katholischen Glauben« übersetzt. Er verfügt weiters über Papiere seiner Halbschwester, die mütterlicherseits katholischer Herkunft ist (siehe Kommentar zu S. 10). Er hat sich genau über die Gesetzeslage in Vichy-Frankreich informiert und weiß, daß Personen, die über nicht mehr als zwei jüdische Großeltern verfügen und bis zum 25. Juni 1940 konvertiert sind, nach französischem Recht nicht als Juden gelten. Die Rezeption hat vor allem die gewitzte Übersetzung des Kürzels »I.K.G.« hervorgehoben. Kucku/Drach brauchte aber beide Dokumente: die der Halbschwester, um das erforderliche nicht jüdische Großelternpaar vorweisen zu können, und den Heimatschein, um zu fingieren, daß er zeitgerecht zum katholischen Glauben übergetreten ist.

Diese Manipulation ist kein rein formaler Akt. Sie hat Rückwirkungen auf das Individuum, das damit einen wesentlichen Teil seiner Identität einbüßt. Die jüdische Mutter, die Drach nicht ins Exilland nachholen konnte oder wollte, dann auch noch zu negieren, indem er die »rassisch« nicht belastete Stiefmutter der Halbschwester als eigene Mutter ausgibt, schafft das Bewußtsein des Muttermords. Vom »Kommissariat für Judenangelegenheiten«, also jener Behörde, die die Judenverfolgung am intensivsten vorantrieb, das lebensrettende Zertifikat erhalten zu haben, kein Jude zu sein, schafft das Bewußtsein des Verrats. Den Gefährten Rappaport, mit dem Kucku gemeinsam fliehen wollte, im Lager Rivesaltes zurückgelassen zu haben, weil man selbst legal auf freien Fuß gesetzt wurde, schafft ebenfalls Schuldgefühle; ebenso wie den geschätzten Autor Walter Hasenclever im Lager Les Milles nicht am Selbstmord gehindert zu haben. Schuldgefühle des Überlebenden, die – anders als das eine jüngere Rezeption von Verfolgungstexten manchmal allzu nivellierend nahelegt – keineswegs damit zu tun haben, daß alle Opfer auch irgendwie Täter sind.1 Denn die eigene Haut auch mit egoistischer Rücksichtslosigkeit gegen die Mitmenschen zu retten, das heißt ihnen nicht selbstaufopfernd zu helfen, sondern sich selbst der Nächste zu sein, ist etwas anderes, als diese Mitmenschen im Namen einer Ideologie aktiv in den Tod zu treiben. Und doch bezahlen Überlebende häufig mit Schuldgefühlen, die daraus resultieren, daß dieses Überleben in Zeiten der Rassenverfolgung nur mit Persönlichkeitsverlust bezahlt werden konnte.

Insofern ist es kaum ein Zufall, daß Drach, anders als ursprünglich geplant, die Unsentimentale Reise nicht als Protokoll, sondern als Bericht geschrieben hat. Er hoffte, mit einem »im Vulgärstil« verfassten Text größere Aussicht auf Erfolg zu haben. Außerdem fordert die Darstellung des Identitätsverlustes unter lebensbedrohender Verfolgung eine direktere Auseinandersetzung mit sich selbst und andere sprachliche Strategien, als sie der Protokollstil leisten könnte. Zwar hat der Autor außer seinen Romanprotokollen Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum und Untersuchung an Mädeln auch ein großes autobiographisches Protokoll – »Z.Z.« das ist die Zwischenzeit – geschrieben, in dem er gegen sich selbst in der Rolle des »Sohns« protokolliert, doch dieser Text, der die Zeit vor Drachs Emigration thematisiert und mit fast dreißigjährigem Abstand von den Ereignissen entstanden ist, handelt von einer Phase, in der Drach und sein Protagonist noch nicht völlig auf die Opferrolle reduziert waren. Als er das Land schließlich wider Willen verlassen mußte, geschah das für ihn zumindest unter einem positiven Aspekt. Drach ließ den ungeliebten Anwaltsberuf und die kontrollierende Obsorge der Mutter hinter sich und hoffte, sich als Schriftsteller realisieren und jenen Teil seiner Persönlichkeit entwickeln zu können, der im beruflichen und familiären Alltag zu verkümmern gedroht hatte.

Die erste Phase der Emigration, die ihn über Split nach Paris und von dort nach Nizza führte, steht durchaus noch unter dem Aspekt einer Befreiung. Drach überarbeitete sein Satansspiel vom göttlichen Marquis und sein Hitlerstück Das Kasperlspiel vom Meister Siebentot, vor allem aber schrieb er 1939 in Nizza seinen ersten Roman, Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. Etwa neun Monate lang führt er das Leben eines Libertins, genießt seine Liebschaften, gibt das Geld seiner Schwester aus und versucht, sich möglichst wenig von der Tatsache beeindrucken zu lassen, daß seine Mutter in der Heimat in eine immer verzweifeltere Situation gerät. Doch dann stirbt die Mutter; die im sogenannten freien, südlichen Teil Frankreichs lebenden Emigranten werden als »feindliche Ausländer« interniert, die Judengesetze verschärft, die Sammellager zu Auslieferungslagern. Drach/Kucku hat zwar viel geschrieben, aber nichts veröffentlicht. Anders als sein berühmter Kollege Lion Feuchtwanger, für den sich Prominente aus Politik und Kultur einsetzen und den er dementsprechend haßt, ist er als unbekannter Schriftsteller ins Exil gegangen und wird ein solcher bleiben, selbst wenn er überleben sollte. Nichts kann jetzt mehr gelingen, auch die Liebe nicht, die Kucku nach seiner Entlassung aus Rivesaltes in der aussichtlosen Beziehung zum Mädchen Myrhinne nur mehr als unglückliche erfährt. Was bleibt, ist die nackte, kreatürliche Existenz, die so wenig Sinn oder auch nur Lust abwirft, daß die Legitimität des Überlebenskampfes immer wieder in Frage gestellt wird, für den sich Kucku selbst verachtet.

Signifikant erscheint in diesem Zusammenhang jene Passage der Unsentimentalen Reise, in der Kucku erfährt, daß er zumindest vorläufig gerettet ist. Unter ganz wenigen steht auch sein Name auf jenem an einen Baum gehefteten Zettel, auf dem zu lesen ist, wer das Lager Rivesaltes am nächsten Tag verlassen darf: »Peter Kucku (das bin ich).« Diejenigen, die deportiert werden, das sind die anderen:

 

»Darauf kommt die Nacht, in der ich nicht schlafen kann. Ich weiß sehr wohl, daß ich mein Leben stehle, daß es ebenso verfallen ist wie das der anderen, und ich weiß sehr wohl, daß andere würdiger wären, an meiner Statt zu gehen, die kräftiger und selbstloser sind und durch stärkere Bindungen mit dem Leben verknüpft scheinen als ich [...]« (UR 89)

 

Die sechzehnjährige Lisbeth zum Beispiel, ein Mädchen mit braunen Zöpfen. Lisbeth und Kucku sehen den jungen ostjüdischen Burschen und Mädchen zu, die noch am selben Abend ihre Volkstänze tanzen. Derjenige, der darüber berichten wird, steht außerhalb des Kreises:

 

»Dazu kommt, daß ich die Zurückbleibenden, bevor ich gehe, mit meinen Blicken auch noch um etwas berauben will: um die Frische ihres Mutes und um die Kraft, jene stumpfe Gewalt, die auf sie eindringt, nicht ernstzunehmen. Um den Willen zum Tanz angesichts ihres Todes [...] kann ich sie beneiden, aber nicht mehr bestehlen. 

Ich betrachte den Tanz, der nicht mehr zu mir gehört.« (UR89f.)

 

Von dieser zentralen Stelle ausgehend, hat Ernestine Schlant die Unsentimentale Reise als Totentanz zu interpretieren versucht, was einiges für sich hat, insofern das aus dem Mittelalter stammende Motiv immer wieder mit Massensterben assoziiert wurde. Allerdings war der historische Totentanz ein Reflex auf Massenepidemien, auf den Tod in Kriegen, dessen Gleichsetzung mit der industriellen Vernichtung des europäischen Judentums doch fragwürdig erscheint. »In the iconography of the Dance-of Death motif, the dual nature of a person as a corpse and as living being is a frequent occurance and contributes to the macabre aspect of the motif.«2 Den Protagonisten Kucku sieht Schlant in der Rolle des lebenden Toten. Das korrespondiert damit, daß sich Kucku als »von Rechts wegen« tot definiert, seit er die Drahtgitter von Rivesaltes passiert hat. (UR 243) »Ich bin gestorben, sie können nur mehr meinen Leichnam retten.« (UR 292) Doch ist ersteres eine Feststellung der Differenz zwischen dem, was de facto und was de iure der Fall ist, letzteres eine Antizipation dessen, was er erst später empfinden wird, als der Nazispuk endgültig vorbei ist.3 Solange Kucku in Lebensgefahr schwebt, kämpft er um sein Leben und hält – abgesehen vom Augenblick der Identifikation mit den Tänzern im Lager – bewußte Distanz zu den Todgeweihten. Diese Identifikation, die vielleicht so etwas wie die Versuchung ist, den eigenen Lebenswillen aufzugeben, gilt es so schnell wie möglich abzuwehren. So zynisch es klingt: Kucku/Drach widersteht der Versuchung, weicht denen aus, zu denen er nicht gehören will, und zwar mit jenem überlebensnotwendigen Zynismus, der in seiner ästhetischen Form die Unsentimentale Reise prägt.

In diesem ästhetischen Zynismus, der menschliches Mitgefühl unterminiert und mit provozierender Komik gegen das verstößt, was man guten Geschmack nennt, sieht André Fischer eine Antwort auf die geschichtlichen Verhältnisse:

 

»Der Leser wird dabei in ein Spiel des komischen Zusammenhangs verwickelt, das die Fallhöhe zwischen factum brutum und dessen Darstellung auch als Zynismus erfahrbar werden läßt, als einen komischen Versuch gegen die ernste Modellierung des Todes und des Heillosen.«4

 

Die Verfremdung des Todes durch Witz und Ironie zeigt die Vernunftlosigkeit des Geschehens. Sie ist eine Möglichkeit der Selbstbehauptung gegen die als irrational erlebte Bedrohung. Tatsächlich ist der Stil, den der Autor zur Darstellung seiner Unsentimentalen Reise fand, auch innerhalb seines eigenen Werkes einzigartig.

 

 

Anmerkungen

1 Aleksandar Tisma hat in seinem Roman Der Kapo (München/Wien: Hanser 1997) die Täterschaft eines Opfers thematisiert, was legitim ist. Problematisch erscheint es allerdings, aus der Täterschaft einiger überlebender Opfer auf die Täterschaft aller überlebender Opfer zu schließen (vgl. Robert Schindel: Der Gott des Überlebens. »Aleksandar Tismas Kapo, der Höllenmonolog eines jüdischen Kapo, den die Furie seiner Schuld verfolgt, stellt den Mythos von der Unschuld der Opfer in Frage. Jeder, der überleben wollte, mußte schuldig werden.« In: Falter Nr. 42 (17.10.1997), Beilage S. 5f.). Sehr differenziert wird diese Frage von Primo Levi behandelt. In: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien: Hanser 1990.

2 Ernestine Schlant, Albert Drach’s Unsentimentale Reise, S. 47. (Der vollständige Zitatnachweis findet sich in der Bibliographie.)

3 Drachs an die Unsentimentale Reise anschließender Text Das Beileid thematisiert die Bewußtseinslage des Überlebenden als Gespenst.

4 André Fischer, Inszenierte Naivität, S. 230.